Atemlos in der Stadt

Wie lungenfreundlich ist das Laufen in der Stadt? Man liest viel über Feinstaubbelastung, Smog und schädliche Abgase. Was bedeutet das für uns Läufer, müssen wir in Zukunft eventuell sogar mit Mundschutz laufen?

TEXT: Dr. Stefan Graf

Frage an die Älteren: Erinnern Sie sich an den 18. Januar 1985? Vermutlich werden Sie an diesem düsteren Freitag nicht die Laufschuhe geschnürt haben – zumindest nicht im Ruhrgebiet. Erstmalig in der deutschen Geschichte wurde dort Smogalarm „Stufe 3“ ausgerufen: Autofahrverbot, Einschränkung der Industrieproduktion, „smogfrei“ für Schüler. In Radio und TV wurde vor körperlicher Anstrengung im Freien gewarnt. Die Luftverschmutzung durch Kohlen-, Schwefel-, Stickoxide und Feinstaub hatte an mehreren Messstellen den als gefährlich eingestuften Grenzwert von 1,7 mg/m3 überschritten.

Bis Ende der 80er Jahre blieben Smog und Fahrverbote in allen westdeutschen Großstädten ein Thema, während jenseits des „Eisernen Vorhangs“ die „Trabi-Rennpappen“ ungefiltert ihre Zweitaktabgase in die Luft bliesen. Über gesundheitliche Gefahren des Sporttreibens in „dicker Stadtluft“ war in einer Zeit, da Restaurants und sogar Sporthallen noch vom Tabakrauch vernebelt waren, wenig zu lesen. 31 Jahre später – Smogalarme sind im umweltbezonten und feinstaubplakettierten Deutschland längst passé – holt uns Vergangenes wieder ein. Die Luftbelastung durch Treibhausgase und Feinstaub war unlängst auf der Weltklimakonferenz in Paris ein Topthema, das auch Freiluftsportler aufhorchen lässt.

LAUFEN IST GESUND – ÜBERALL?

Die Laufbewegung hat eine Evolution ungeahnten Ausmaßes durchgemacht. Breitensportler gehen heute an den entlegensten, aber auch an maximal luftverschmutzten Orten wie den asiatischen Megacitys Peking oder Delhi an den Marathonstart. Angesichts exorbitanter CO2-, SO2- und Feinstaubwerte wollen solche Starts gut überlegt sein. Die in deutschen Großstädten gemessenen Werte sind um Größenordnungen kleiner als jene, die in Asiens Metropolen regelmäßig die „Smogwarnstufe Rot“ herausfordern. Dennoch werden in Berlin, München oder Köln die von der WHO empfohlenen Limits regelmäßig überschritten. Jenseits vom Brenner in Rom und Mailand wurden zu Weihnachten 2015 Smogalarme mit Fahrverboten und „Daheimbleibempfehlungen“ wieder Realität. Schadet das Laufen anno 2016 in der Großstadt mehr als es nutzt?.

VORSICHT, FEINSTAUB!

Feinstaub ist ein Sammelsurium mikroskopisch kleiner Schwebeteilchen unterschiedlichster chemischer Natur, die längere Zeit in der Atmosphäre verbleiben. Sie rekrutieren sich aus Industrie-Emissionen (Kraftwerke, Müllverbrennung, Heizanlagen), Autoabgasen – selbst aus „umweltfreundlichen“ Benzinmotoren – aber auch aus der Landwirtschaft sowie aus natürlicher Bodenerosion. Ein weiterer Hauptemittent ist der Tabakrauch. Besondere Wetterlagen mit Windstille und Temperaturinversion (wärmere Luftschicht über kälterer) verhindern die Durchmischung, was zur Schadstoffkonzentrierung führt und über Ballungszentren (Großstädte) die mit „Smog“ umschriebene Dunstglocken- bildung begünstigt.

JE KLEINER, DESTO GEMEINER

Zum Feinstaub zählt man sogenannte PM10 („Particulate Matter“)-Partikel mit einem maximalen Durchmesser von 10 μm (1/100 Millimeter). Im Hinblick auf das gesundheitli- che Gefahrenpotenzial werden zudem lungengängige PM2,5-Teilchengrößen (unter 2,5 μm) als Ultrafeinstaub indexiert. Das menschliche Bronchialsystem – Nase, Mund, Luftröhre Bronchien/Bronchiolen und Lungenbläschen – verfügt über eine Reihe von mechanischen wie biochemischen Abwehrmechanismen. So werden größere Partikel recht wirkungsvoll vom Flimmerepithel der oberen Atemwege (Nase, Luftröhre, Bronchien) entsorgt.

Ultrakleine Partikel und besonders sekundärer Feinstaub können diese „Firewall“ passieren, sich in Luftröhre, Bronchien/Bronchiolen fest- setzen und bis in die Lungenbläschen (Alveolen) vordringen. Schleimhautreizungen und allergische Reaktionen bis hin zum Asthma sind noch die minderschweren Symptomatiken. Zwar befähigt ein leistungsfähiges Abwehrsystem gesunde Lungen, viele eingedrungene Partikel unschädlich zu machen – aber nicht alle!

Mikropartikel mit besonderen physikalisch- chemischen Eigenschaften können nicht nur die Lunge selbst in Form von irreparablem Funktionsverlust schädigen. Sie treten im schlimmsten Fall in die Blutbahn über, können Entzündungen auslösen, die Blutgerinnung behindern und das für die Regulation sämtlicher Organfunktionen zuständige vegetative Nervensystem aus der Balance bringen. Herzinfarkt, Schlaganfall und schwere Organschäden (Krebs) – keineswegs nur in den Lungen – sind die bösartigsten Folgen. Zu den Hauptemittenten dieser höchst gefährlichen Mikropartikel zählt die Zigarette. Rauchen bedeutet höchste Fahrlässigkeit – Ausdauersport effizienteste Prävention gegen Multiorganschäden durch Mikropartikel.

WUNSCH VS. REALITÄT

Wegen der gesundheitlichen Risiken hat die WHO Grenzwerte definiert. Für PM10-Fein- staub liegt er bei 20 μg/m3 als Jahresmittelwert und bei 50 μg/m3 als Tagesmittelwert, der an höchstens 35 Tagen im Jahr überschritten werden sollte. In vielen Städten der Welt werden diese Vorgaben drastisch verfehlt. Ballungsräume in China, der Mongolei und Indien, aber auch in Brasilien sowie in einigen Ländern des Nahen Ostens und Afrikas weisen beängstigende Verhältnisse auf. Wenngleich in Deutschland die Belastung auch aufgrund einiger Luftreinhaltungsmaßnahmen und -gesetze um einiges niedriger liegt, werden auch bei uns die WHO-Empfehlungen deutlich verfehlt. Das betrifft sowohl das Jahresmittel als auch das maximale Tagesmittel, das in Städten wie Berlin, München oder Stuttgart (der unrühmliche Spitzenreiter) an weit mehr als 35 Tagen pro Jahr (Stuttgart >60) überschritten wird.

GUTE LANDLUFT?

Eine lange unterschätzte Feinstaubquelle ist die Landwirtschaft. Durch Düngemittel sowie aus der Massentierhaltung gelangen Feinstaubbildner wie Methan und Ammoniak in die Luft. In Teilen Europas, in Russland, im Osten der USA und in Ostasien sollen sogar die meisten Feinstaubpartikel aus der Landwirtschaft stammen. Zudem gibt es in ländlichen Gegenden eine überdurch- schnittlich hohe Zahl privater Holzöfen und -kamine, deren Gesamtfeinstaubemissionen nach UBA-Berechnungen z. T. den Straßenver- kehr übertreffen. In bergigem Gelände können sich Feinstaubwolken bei windarmen Wet- terlagen regelrecht festsetzen. Das geringere Verkehrsaufkommen auf dem Lande ist somit kein Garant für lungenfreundliche Atemluft.

SOLL ICH ODER SOLL ICH NICHT?

Schadet das atmungsintensive Laufen in der gar nicht so klaren Stadt- und Landluft mehr als es nutzt? Werden die gesundheitlichen Boni durch die Folgen einer erhöhten Schadstoffauf- nahme zunichte gemacht? NEIN – lautet die einhellige Expertenmeinung. Zum einen sind die positiven Trainingswirkungen – sowohl auf die Reinhaltemaschinerie der Atemwe- ge als auch auf die allgemeine Resilienz (Widerstandskraft gegen belastende Einflüsse) – so überzeugend, dass ein Verzicht bzw. eine deutliche Reduktion outdoorsportlicher Aktivitäten klar die ungünstigere Alternative ist. Wichtig ist, das Training vernünftig zu dosieren. Die immunschwächende Wirkung zu hoher Trainingsintensitäten und -umfänge ist unstrittig nachgewiesen, wird aber in Zeiten der „Jedermann-Ultrawettkämpfe“ mehr und mehr zum Problem.

SCHUTZ DURCH MUNDSCHUTZ?

Zum anderen hat sich gezeigt, dass es vor allem längerfristige starke Feinstaubbelastungen sind, die Herz-, Lungen- und andere Erkrankungen auslösen. Bereits bestehende Vorerkrankungen können sich allerdings schon bei kurzzeitigen Aufenthalten in hoch- belasteter Luft verschlechtern. Dies muss bei der Aufnahme sportlicher Aktivitäten berücksichtigt werden. Dass Rauchen und Alkoholabusus (Schädigung des Flimmer- epithels und aller anderen Zelltypen) auch aus atemwegsgesundheitlicher Sicht „Harakiri“ sind, bedarf keiner Erklärung. In Asien längst normal, sieht man in unseren Breiten kaum Sporttreibende, die hoffen, der Schadstoffaufnahme durch einen Mundschutz Einhalt zu gebieten. Macht auch wenig Sinn: Einfache Atemmasken bieten keinerlei Schutz vor Feinstaub. Dazu bedarf es sogenannter „N95-Respiratoren“. Das sind Hygienemasken mit spezieller Filterfunktion. Doch selbst diese schüt- zen nur, wenn sie, exakt angepasst, sehr dicht anliegen. Zudem erschwert der Filter das Atmen erheblich – keine gute Voraussetzung für das Lauftraining. Bei „Hygienefilter-pflichtig“ belasteter Luft liegt die bessere Trainingsalternative in der Flucht in klarere Gefilde.

KEEP ON RUNNING

Gesunde Menschen können sich nach einer kurzzeitigen starken Feinstaubbelastung normalerweise rasch und ohne bleibende Schäden regenerieren. Bestes Beispiel: die Silvesternacht, in der durch die Ballerei PM10- Werte bis zu 4.000 μg/m3 erreicht werden. Ein gesunder, junger Athlet wird durch die Teilnahme an einem Neujahrslauf oder einem Citymarathon in Asien keinen Schaden nehmen. Hier muss jeder selbst entscheiden, ob es unbedingt Peking oder Delhi sein muss. Für lange und intensive Trainingseinheiten empfiehlt sich die Wahl eines verkehrsarmen Terrains im Grünen. Das gilt auch für die Vorbereitung auf einen Citylauf – „Abgasverarbeitung“ muss nicht trainiert werden.

Ihr Experte:

DR. STEFAN GRAF

Alter: 54
Wohnort: Berlin Sportliche Erfolge: Deut- scher Fußball-Vizemeister im Hochschulsport, passionierter Läufer Beruf: Molekularbiologe, Dipl. Fachzeitschriften- Redakteur

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