Abenteuer Rückwärtslaufen
Wer glaubt, Rückwärtslaufen sei bloß ein Jux, liegt falsch: Die Besten dieser Disziplin kämpfen sogar um Titel und Rekorde – und schwören auf die positiven Effekte für Muskeln, Gelenke und Koordination. aktivLaufen stellt die ungewöhnliche Laufvariante vor.
Text: Wilfried Spürk
Das nächste Laufabenteuer wartet beim nächsten Schritt. Wenn Sie es wollen. Und wenn Sie sich trauen. Drehen Sie sich um 180 Grad und laufen Sie weiter in dieselbe Richtung wie zuvor. Ja, jetzt laufen Sie rückwärts – und betreten eine völlig andere Laufwelt, die neue Erfahrungen eröffnet und ungewohnte Herausforderungen stellt. Sie bewegen sich fast auf Zehenspitzen und werden sich wohl gelegentlich mal nach hinten umschauen, um eventuell auftauchenden Hindernissen auszuweichen. Vielleicht bemerken Sie auch belustigte Blicke von Passanten oder anderen Läufern. Und womöglich werden Sie bei all dem so viel Spaß haben wie lange nicht mehr beim Laufen – und künftig bei Ihren Trainingsrunden regelmäßig mal eine kleine Passage rückwärts einlegen. Dann wären Sie zwar ein Exot unter den Läufern, aber keineswegs allein unterwegs.
Es gibt mittlerweile eine lebendige Szene von Rückwärtsläufern, die sich sogar in Wettbewerben messen und Bestzeiten jagen. Die Ursprünge dieses Sports sollen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa liegen, als Rückwärtsläufer als Showattraktionen auftraten. Später setzten amerikanische Athleten das Rückwärtslaufen im Training ein, in Europa fand diese Laufvariante ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend mehr Anhänger. Der erste offizielle Wettkampf in Europa fand 1992 im italienischen Poviglio statt. Einen Aufschwung erlebte das Rückwärtslaufen dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Zahl der Wettbewerbe in verschiedenen Ländern nahm zu. In Deutschland wurde der seit 2000 ausgetragene „Deutsche Rückwärtslauf“ in Augsburg im Jahr 2002 in die Deutsche Rückwärtslauf-Meisterschaft umgewandelt. 2005 schlossen sich die Rückwärtslauf-Begeisterten als „International Retro-Runner“ (IRR) zu einem internationalen Verband zusammen. „Retrorunning“ wird übrigens als Synonym zu Rückwärtslaufen auch im deutschsprachigen Raum gebraucht. Ein Jahr nach ihrer Gründung veranstalteten die IRR die erste offizielle Weltmeisterschaft, die seitdem alle zwei Jahre ausgetragen wird. Das Programm umfasst Sprintstrecken (100 Meter, 200 Meter), Mitteldistanzen (400 Meter, 800 Meter, 1.500 Meter) und Langstrecken (3.000 Meter, 5.000 Meter, 10.000 Meter) sowie den Halbmarathon und Staffelwettbewerbe.
Deutsche Pioniere
Einer der Pioniere und mehrfacher Medaillengewinner bei den ersten Titelkämpfen 2006 in Rotkreuz, Schweiz, ist Roland Wegner, der in seinem 2010 veröffentlichten Buch „Retrorunning. Rückwärts zu neuen Ufern“ (erschienen im spomedis-Verlag) einen Überblick über alle Aspekte des Rückwärtslaufens als eigener Sportart gibt und erzählt, wie er persönlich zum Retrorunning kam. Als 19-Jähriger begann Wegner eine Karriere als „normaler“ Läufer. Wegen Knieproblemen infolge eines Kreuzband- und horizontalen Meniskuseinrisses konnte er allerdings nicht mehr schmerzfrei laufen. Ärzte rieten ihm vom Leistungssport komplett ab. Mit dem Rückwärtslaufen fand Wegner dann nicht nur eine Laufdisziplin, die er beschwerdefrei ausüben konnte, sondern, so erzählt er es in seinem Buch, die es ihm nach einiger Zeit auch wieder ermöglichte, vorwärts auf hohem Niveau zu laufen. 2004 verwirklichte er so doch noch seinen Traum vom Start bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften: in der 4 x 400-Meter-Staffel, als Vorwärtsläufer.
Wegner hält bis heute die Rückwärts-Rekorde auf den Sprintdistanzen. Im Jahr 2007 lief er die 100 Meter in 13,6 Sekunden, für die 200 Meter stehen 31,56 Sekunden von 2008 zu Buche. Auf den längeren Strecken sorgt sein Landsmann Thomas Dold, der auch als einer der weltbesten Treppenläufer bekannt ist, seit Jahren für Furore. Er stellte unter anderem die Weltbestzeiten über 400, 800 und 3.000 Meter auf. Der jüngste Husarenstreich gelang Dold am 26. April des vergangenen Jahres, als er im Rahmen des Oberelbe-Marathons in Dresden mit 39:20 Minuten den neuen Weltrekord über 10.000 Meter aufstellte. Grob gesagt sind Rückwärtsläufer, sofern man sich an den Rekorden orientiert, 30 bis über 40 Prozent langsamer als Vorwärtsläufer.
Dold, der neben seinen vielfältigen sportlichen Aktivitäten im Laufbereich auch als Manager der Langstrecken-Asse Lisa und Anna Hahner arbeitet sowie als Motivationscoach in Unternehmen tätig ist, kam über den Fußball zum Rückwärtslaufen. Als Jugendlicher spielte der Baden-Württemberger beim SV Steinach im Schwarzwald. Der Verein hat auch eine Laufabteilung, und als die mit ein paar Vertretern 2003 zur Deutschen Rückwärtslauf-Meisterschaft fuhr, nahmen sie Dold mit. „Von da an hat’s mich nicht mehr losgelassen“, sagt der 31-Jährige. „Es war faszinierend, wie schnell ich mich verbessern konnte und zunehmend mehr Kilometer am Stück schaffte.“ Rückwärts laufen war auch für ihn erst mal eine völlig ungewohnte Belastung. „Es ist, wie wenn man Liegestütze macht und irgendwann einfach nicht mehr kann. Beim Rückwärtslaufen kriegt man nach einiger Zeit die Füße nicht mehr hintereinander. Das tut dann auch weh“, erklärt Dold. Deshalb sei für Anfänger wichtig: die Sache langsam angehen, Distanzen und eventuell Tempo nur allmählich erhöhen. Dann aber sei Rückwärtslaufen ein gutes Alternativtraining, das die Koordination schule und die Beinmuskulatur kräftige, vor allem die bei vielen Läufern kritischen hinteren Oberschenkelmuskeln.
Sinnvoll im Training
Den positiven Effekt für die Koordination bestätigt Sportmediziner Dr. Matthias Marquardt, der mehrere Bücher zum Thema Laufen veröffentlicht hat und selbst Laufseminare anbietet (www.marquardt-running.com). „Als koordinatives Element im Training bietet sich Rückwärtslaufen an. In meinen Seminaren kann das so aussehen, dass die Teilnehmer bei Dauerläufen alle zehn Minuten mal ein paar Schritte seitwärts links, ein paar Schritte seitwärts rechts und eben auch ein paar Schritte rückwärts machen“, sagt Marquardt. „In allen Sportarten, wo die Laufarbeit eine wichtige Rolle spielt, ist Rückwärtslaufen als Bestandteil koordinativer Einheiten eine sinnvolle Sache.“
Dold bestätigt das, seine Hahner-„Schützlinge“ bauen Retro-Einheiten vor allem im Aufbautraining ein. Positiv wirkt sich das auch auf die Muskulatur aus. Vor allem der Wadenbereich wird beansprucht, während die Gelenke geschont werden: „Rückwärts laufen Sie erzwungenermaßen auf dem Vorfuß, dabei fängt man die Stöße zu einem großen Teil mit der Wadenmuskulatur ab“, erläutert Experte Marquardt. Die Folge: „Knie und Hüfte werden entlastet.“ Dies sei auch der Grund, warum manche Arthrosepatienten Treppenstufen gerne rückwärts bewältigen. „Wer rückwärts geht, hat einen deutlich geringeren Anpressdruck hinter der Kniescheibe.“ Die Erfahrung von Buchautor Wegner scheint diese Analyse zu bestätigen.
Trotz der positiven Aspekte betont Sportmediziner Marquardt aber, dass das Rückwärtslaufen aus seiner Sicht für längere Strecken problematisch ist: „Der Fuß ist eigentlich dafür gemacht, dass man sich über die Zehen kraftvoll nach vorne abdrückt und die Zehen dabei beugt, um den Fuß zu stabilisieren. Genau das können Sie beim Rückwärtslaufen nicht. Insofern ist das nicht grundsätzlich die physiologisch gesündere Bewegung. Und da man oft nach hinten blickt, tut man seinem Nacken auch nichts Gutes.“
Sommer-WM in Deutschland
Passionierte Rückwärtsläufer wie Dold haben Wege gefunden, das Orientierungs- und Nackenproblem zu mildern. Eine der gängigsten: jemanden mitnehmen, der einen im Vorwärtslauf begleitet. Der Multiweltrekordler führt ungeahnte Vorteile eines solchen Trainings ins Feld: „Ich kann so gut mit jemandem zusammenlaufen, der im Vorwärtslaufen langsamer ist als ich.“ Auch einen kommunikativen Aspekt sieht Dold: „Man kann sich sogar richtig gut unterhalten, da man sich direkt anschauen kann.“ Der zehnfache Retrorunning-Weltmeister, der den Anteil von Rückwärtslauf-Einheiten in seinem Training mit rund zehn Prozent angibt, absolviert diese meist auf der Tartanbahn oder verkehrsarmen Straßen, gerade dort nicht ohne Begleitung.
Das Wettbewerbsangebot ist begrenzt, für seine Weltrekordversuche organisierte Dold teilweise selbst Veranstaltungen. „Meist mit eher wenigen Teilnehmern, weil man auch aufeinander achten muss“, erklärt er. Zudem werden die Retrorunner meist durch Begleitläufer oder Radfahrer eskortiert. Manche Rückwärtsläufer starten auch bei normalen Laufveranstaltungen. Dold selbst plant für den 5. Mai eine Teilnahme beim Auffahrtslauf in der Schweiz, wo er erstmals die Halbmarathondistanz rückwärts laufen will. Vom 14. bis 17. Juli steht dann das nächste Highlight für Dold an: Zum ersten Mal finden die Weltmeisterschaften in Deutschland statt, im Sportpark Hallo in Essen (Infos unter retrorunning2016.com). Eine perfekte Gelegenheit für Neugierige, den ungewöhnlichen Sport mal kennenzulernen. Andererseits: Dafür brauchen Sie sich bei Ihrem nächsten Lauf einfach nur mal um 180 Grad zu drehen und in dieselbe Richtung weiterzurennen.
Tipps für Anfänger:
Kurze Strecken
Bauen Sie in Ihr normales Training kurze Passagen ein. Vielleicht anfangs nur 50 Meter, und das mehrmals. Später die Distanzen allmählich etwas steigern.
Freie Bahn wählen
Checken Sie auf Ihrer Trainingsrunde, dass Sie eine Weile keinen Gegenverkehr haben – damit Sie entspannt eine kleine Passage rückwärts laufen können.
Nicht im Wald
Wählen Sie einen übersichtlichen Park oder eine Sportplatz-Laufbahn – aber laufen Sie lieber nicht im Wald, wo Baumwurzeln, Steine, Zweige als Stolperfallen lauern.
Mit Begleitung
Gemeinsam mit einem Vorwärtsläufer sind Sie entspannter – und Sie können sich sogar noch besser unterhalten als nebeneinander.