Allez les Bleus
Bei den IAU Trail World Championships in Annecy wurde das Heimspiel für die Franzosen zu Festspielen: Bei allen vier Siegerehrungen wurde am Ende die „Marseillaise“ gespielt. Das deutsche Team, für das auch aktiv Laufen-Expertin Anne-Marie Flammersfeld an den Start ging, musste im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn mit leerem Magen nach Hause gehen. Ein Erlebnisbericht.
Text: Daniel Becker
Es ist kurz nach 18:00 Uhr in Annecy, der Perle der französischen Alpenstädte. Anne-Marie Flammersfeld hat Hunger. Den gesamten Tag ist die erfolgreichste deutsche Extremsportlerin gelaufen, gestartet wurde in der Nacht. Genau elf Stunden, 21 Minuten und drei Sekunden. 85 Kilometer, rund um den Lac d’Annecy, den traumhaft gelegenen See, um den herum das Leben in der Hauptstadt des Départements Haute-Savoie in der Region Rhône-Alpes organisiert ist. Dabei musste sie, wie die anderen 285 Athletinnen und Athleten, die bei der Trail-WM um Titel, Medaillen und Platzierungen gekämpft haben, 5.300 Höhenmeter bewältigen. Verständlich, dass danach der Magen knurrt.
Für 20 Uhr hat der Veranstalter ein großes Buffet für alle Teilnehmer und Betreuer im größten Zelt des Athletendorfes angekündigt. Mit der Griechin Spyridon Xenitidis wird nur wenige Minuten vorher auch die letzte WM-Teilnehmerin das Ziel an der Seepromenade erreicht haben. Weit hat sie es danach zum Glück nicht. Das Zelt liegt direkt gegenüber der Zielgeraden.
Im Schatten der Großen
Für das deutsche Team haben sich zusammen mit Anne-Marie Flammersfeld fünf weitere Frauen (Pamela Veith, Simone Philipp, Anja Karau, Julia Fatton und Ildiko Wermescher) sowie sechs Männer (Rudi Döhnert, Marcus Biehl, Martin Schedler, Matthias Dippacher, Anton Philipp und Florian Reichert) auf den Weg zur Trail-WM nach Annecy gemacht. Zur Unterstützung ist auch ein kleiner Stab an Betreuern und Helfern mit angereist. Alle deutschen Athleten sind mittlerweile im Ziel angekommen. Die gesamte Gruppe sitzt im Athletendorf unter einem der großen, schattenspendenden Bäume zusammen. Manche dösen ein wenig, andere pflegen ihre Wunden, der Rest lässt das Rennen gemeinsam Revue passieren. Schon den ganzen Tag lang haben sich über den Gipfeln der Alpenriesen nur kleine Schleierwolken blicken lassen.
Im Tal war es angenehm warm, oben in den Bergen, auf streckenweise über 1.500 Metern, nicht zu kalt – zumindest nach Tagesanbruch. Traumhafte Laufbedingungen also. Auch jetzt, kurz vor Beginn der Dämmerung, zeigt das Thermometer noch 24 Grad an. Weil das Athletendorf aber nicht genügend Plätze zur Abkühlung bietet, haben sich viele Läufer rund um den gesamten Zielbereich ihren Ruheplatz gesucht. So mancher hat auch schon ein kühles Bad im Lac d’Annecy hinter sich. In dem See, um den sich für die Athleten in den Stunden zuvor im wahrsten Sinne des Wortes alles gedreht hat. „So langsam würde ich aber wirklich gerne mal was essen“, sagt Anne-Marie Flammersfeld und blickt neugierig in Richtung Zelt. Es ist kurz vor 19:00 Uhr.
Grande Nation
Sechzehn Stunden zuvor, um 3:30 Uhr nachts, war der Startschuss für die IAU Trail World Championships, so der offizielle Titel des Rennens, gefallen. Vier Wertungen wurden ausgetragen. Neben den Einzelwertungen wurde für Männer und Frauen zusätzlich eine Teamwertung ausgetragen. Die Zeiten der schnellsten drei Athletinnen und Athleten wurden dabei jeweils addiert. Bei den Frauen liefen die drei besten deutschen Starterinnen unter die Top 35.
Am erfolgreichsten war mit Platz 18 Ildiko Wermescher (11:17:17 Stunden). Anne-Marie Flammersfeld, den Lesern dieser Zeitschrift als „Wüstenkönigin“ und aktiv Laufen-Expertin bekannt, kam knapp dahinter auf Platz 21 ins Ziel (11:21:03 Stunden). Als drittbeste Deutsche schaffte Simone Philipp Rang 35 (11:49:01 Stunden). Das reichte für die Frauen hinter Frankreich, Spanien und Italien am Ende für einen starken vierten Platz in der Mannschaftswertung: „Mit der Einzel-Platzierung bin ich absolut zufrieden, vor allem wenn man bedenkt, dass das ein Weltmeisterschaftsrennen war und so viele Topläuferinnen am Start waren“, erzählt Flammersfeld nach dem Rennen.
Ein kleiner Wermutstropfen: Mit etwa zwölf Minuten hatte das deutsche Team keinen allzu großen Rückstand auf den Bronzerang, den die Frauen aus Italien belegten.: „Auf jeden Fall hätten wir in der Teamwertung gerne eine Medaille gewonnen. Der vierte Platz ist trotzdem absolut in Ordnung, aber eine Medaille wäre einfach das i-Tüpfelchen gewesen“, so Flammersfeld. Die Männer- mannschaft musste sich am Ende mit dem siebten Rang zufriedengeben. Schnellster deutscher Läufer war Matthias Dippacher auf Rang 26 (09:35:26 Stunden). Die Zeiten von Rudi Dohnert (Rang 38, 09:51:27 Stunden) und Marcus Biehl (Rang 42, 10:01:01 Stunden) gingen ebenfalls in die Mannschaftswertung ein. Auch hier gewann Frankreich. Auf den Plätzen zwei und drei folgten die Mannschaften aus den USA und Großbritannien.
Technische Störung
Der schnellste Deutsche, Matthias Dippacher, scheint nach dem Rennen von allen Läufern im Team am entspanntesten zu sein. Im ersten Gespräch mit ihm streikte das Tonbandgerät nach wenigen Sekunden. Das fiel jedoch leider erst am Ende auf. Für Dippacher kein Problem. Er lässt sich auf seinem Stuhl ganz weit nach unten rutschen und zieht sein Fazit ein zweites Mal: „Nach dem Rennverlauf bin ich mit meiner Platzierung sehr zufrieden. Nachdem ich bei der ersten Verpflegung noch irgendwo zwischen Rang 60 und 80 lag, bin ich sehr happy, dass ich noch nach vorne laufen konnte.“
Wie im Team, so führte auch in der Einzelwertung an den heimstarken französischen Athleten kein Weg vorbei. Und das, obwohl sich in Annecy die gesamte Weltelite versammelt hatte. Im Rennen der Männer hatte sich im Vorfeld alles auf den spanischen Topfavoriten Luis Alberto Hernando konzentriert, der als absoluter Star der Szene gilt. Am Ende entwickelte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und dem Franzosen Sylvain Court.
Den letzten Aufstieg hinauf zum Mont Baron hatten beide noch Seite an Seite bestritten, bergab zahlte sich dann die Ortskenntnis des Franzosen aus, der gemeinsam mit seinem gesamten Team im Vorfeld der WM die komplette Strecke in Etappen abgelaufen war. Court konnte Hernando abhängen und am Ende seinen Vorsprung bis ins Ziel sogar auf 3:28 Minuten ausbauen. Auf Rang drei lief mit Patrick Bringer ebenfalls ein Franzose. Bei den Frauen konnten die vielen Zuschauer sogar einen französischen Doppelsieg bejubeln: Nathalie Mauclair konnte ihren WM-Titel aus Wales erfolgreich verteidigen, auf Platz zwei kam ihre Landsfrau Caroline Chaverot vor der Spanierin Maite Mayora ins Ziel.
Abgekämpft und glücklich
Mittlerweile ist es kurz vor 20 Uhr. Die Vorbereitungen für das sehnsüchtig erwartete Festmahl laufen noch auf Hochtouren, die letzten Caterer eilen mit noch zugedeckten Tabletts in das Zelt hinein. Bei der deutschen Mannschaft ist trotz der zurückliegenden Anstrengungen und des immer größer werdenden Hungers die Stimmung hervorragend. Irgendwie scheint alles in Ordnung zu sein, wenn man nach 85 Kilometern gemeinsam über das Erlebte sinnieren kann. Der gute Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, aus der sich vor dem WM-Projekt einige Sportler untereinander noch gar nicht kannten, ist auffällig. „Wir sind als Team hier angetreten, und schon im Vorfeld haben alle harmonisch und sehr angenehm miteinander agiert“, erzählt Jens Lukas, DLV Teammanager Ultratrail. Natürlich hätte auch Lukas zumindest eines seiner Teams gerne auf dem Podium gesehen. Dennoch ist er zufrieden – vor allem mit dem Ergebnis der Frauenmannschaft.
Denn in Deutschland herrschen im Hinblick auf Ultratrail nicht gerade optimale Bedingungen: „Außer im direkten Alpenraum sind in Deutschland einfach nicht die Trail-Möglichkeiten gegeben wie zum Beispiel in den USA oder in Spanien, Portugal, Italien und Frankreich. Das sind im Ultratrail einfach die Nationen schlechthin. Wir haben uns mit den Läuferinnen aus diesen Nationen fast im Schulterschluss bewegt und können daher auch zufrieden sein“, erklärt er.
Wer derweil im Athletendorf hinter die Streckenabsperrungen in Richtung See blickt, sieht noch immer in regelmäßigen Abständen Hobbyläufer auf ihren finalen Metern vor dem Zieleinlauf. Manche quälen sich mit den letzten Kraftreserven über die Linie, andere können noch jubeln und feiern ihre Ankunft mit den zahlreichen Zuschauern am Rand. Bis 24 Uhr wird das noch so weitergehen. Der Grund: Neben der Trail-WM, die zum ersten Mal in Annecy ausgetragen wurde, fand wie jedes Jahr an gleicher Stelle auch wieder das „Tecnica MaXi Race“ statt. Heute Morgen machten sich, anderthalb Stunden nach dem Start des IAU-Rennens, auch 2.000 Hobby-Läufer auf den Weg – über die gleiche Strecke, die auch die WM-Teilnehmer bewältigen mussten. Jetzt begrüßt ein unermüdlicher Ansager über Mikrofon jeden Zielankömmling so ausführlich, als würde er ihn persönlich kennen. Seine Stimme hallt durch das ganze Athletendorf und streitet mit der Musik, die gleichzeitig aus den Boxen strömt, um Aufmerksamkeit.
Wer bis Mitternacht die Ziellinie nicht überquert hat, ist kein Finisher. Bei den jetzt noch einlaufenden Hobby-Athleten spielt die Zeit aber schon längst keine Rolle mehr. Der Weg war das Ziel. Und den Läufern ist in ihren Gesichtern anzusehen, dass dieser Spruch keine abgedroschene Läuferphrase ist. In ihnen zeigt sich diese besondere Mischung aus Erschöpfung und Glück, die sich nur nach ultimativer Verausgabung einstellt. Der Ausdruck in den Gesichtern steht für ein verbindendes Gefühl, etwas, das ambitionierte WM-Teilnehmer und Hobbyläufer miteinander verbindet. An diesem Abend haben die Freizeitathleten sogar noch einen großen Vorteil. Sie organisieren ihr Abendessen selbst. Im Athletendorf gibt es anstelle des erhofften Riesenbuffets für die Athleten schlicht eine Auswahl kleiner Finger-Food-Häppchen. Keine Medaille für das Essen. Der Magen knurrt noch eine Weile. Annecy, Perle der französischen Alpenstädte. Kurz nach 20 Uhr.