Illustration: Philipp Jordan

Den Schmerz umarmen

Jeder Läufer und jede Läuferin wird das kennen: Der Muskel übersäuert, er will nicht mehr, es tut weh. Aber kann man den Schmerz auch umarmen, sich ihn gar zunutze machen? Unser Glossist Philipp Jordan hat sich dieser schmerzhaften Frage angenommen.

Ich bin wohl eher ein Weichei, ein Sauna-unten-Sitzer, ein Warmduscher. Sie können Ihr Lack-und- Leder-Dress also wieder in Ihren Schmuddelschrank packen, ich bin nämlich erst recht kein großer Freund von Schmerzen. Ich hatte als Kind eine geradezu pathologische Angst vor dem Zahnarzt, und aus ähnlichen Gründen hatte ich auch nie viele Blutsbrüder und war beinahe 40, als ich mir mein erstes Tattoo stechen ließ. Eine schlagende Verbindung wäre zwar sowieso nie so wirklich meins, aber ich würde einen Teufel tun, mir freiwillig einen Schmiss zuzulegen.

Was ist Schmerz eigentlich?

Schmerz ist aber im Grunde ein sehr praktisches Ding, denn er macht uns darauf aufmerksam, dass unsere fleischliche Hülle einen Materialschaden erlitten hat. Man stelle sich vor, es gäbe dieses System nicht. Wie peinlich wäre es, wenn uns ein Fremder morgens in der überfüllten Straßenbahn darauf aufmerksam machen müsste, dass man ein Messer im Rücken stecken hat oder einem ein Fuß fehlt. Und auch beim Laufsport ist es ein Signal des Körpers, auf das wir hören sollten oder das wir zumindest aufmerksam beobachten sollten. Doch auch der vernünftigste Sportler und die vorsichtigste Sportlerin werden schon mal ein wenig Schmerz akzeptiert haben. Denn egal wie viele Trainingskilometer man jeden Monat in seine Turnschuhe ballert: Spätestens bei Marathon-Kilometer 35 spürt man seine Beine. Der eine weniger, der andere mehr.

Darf ’s auch etwas mehr sein?

Aber was ist, wenn man vorhat, mehr als die Marathondistanz zu laufen? Hier bewegen wir uns ein klein wenig weg vom reinen Gesundheitssport, ein wenig weg von der Vernunft. Ich weiß noch, wie ich die Worte von Dean Karnazes fasziniert in mich aufsog, der in seinem Buch „Ultramarathon Man“ beschrieb, wie man den Schmerz umarmen sollte. Bei meinem ersten Ultramarathon habe ich das dann auch versucht. Ich sag es mal so: Haben Sie es als Kind einmal erlebt, dass irgendwelche aufgebrezelten Tanten Sie innig und mit einem übertriebenen Enthusiasmus umarmt und ungefragt abgeknutscht haben? So ähnlich muss sich das für meinen Schmerz angefühlt haben.

Da kam nichts zurück. Keine Liebe. Der Schmerz und ich wurden keine Freunde. Aber ich bin mir inzwischen sicher, dass ich das damals alles ein wenig falsch verstanden hatte mit dem „Schmerz umarmen“. Im Laufe der Jahre musste ich so viele lange und bedingt auch schmerzhafte Trainingsläufe absolvieren, dass der Schmerz und ich zwar keine Freunde wurden, aber doch zumindest irgendwie so etwas wie gute Nachbarn. So frei nach dem Motto: Wenn ich schon mit dir leben muss, lass uns das Beste daraus machen!

Ich habe vor Kurzem mit Lars Schweizer gesprochen. Lars möchte die TorTour de Ruhr gewinnen. Mit Ansage! Das ist ein 230 Kilometer langer Lauf an der Ruhr entlang. Man könnte auch sagen „the title gives it away“, aber auch ganz ohne diesen Titel kann sich jeder laufende Mensch vorstellen, dass man sich für so einen Lauf ganz besonders gut mit dem Schmerz anfreunden muss. Richtig gut. Ziemlich beste Freunde und so. Das Programm, das Lars deshalb abspult, klingt fast unmenschlich. Als ich nicht ohne Stolz feststellte, dass wir beide eine ähnliche Trainingswoche hinter uns hatten – ich 100 Kilometer, er 135 Kilometer –, merkte er zum Beispiel so ganz nebenbei an, dass das seine Pausenwoche war. Ja, ist klar, danke auch.

Als ich sehr glücklich mit meinem 21-Wechselkilometer-Training war (drei Kilometer einlaufen und danach abwechselnd einen Kilometer schnell und einen Kilometer gemütlich im Wechsel) und mir danach erst mal einen Tag Pause gönnte, unterhielten wir uns über ebenjene Trainingseinheit. Er meinte, das sei perfekt, um eine Vorermüdung in die Beine zu bekommen. Denn was Lars auch sehr oft abspult, sind sogenannte Back-to-back-Läufe. Das bedeutet, dass man sich an die großen Umfänge gewöhnt, indem man das Training in zwei Einheiten teilt und dann bei der zweiten Einheit mit ermüdeten Beinen startet. So stehen auf seinem Trainingsplan Tage, an denen er morgens vier Stunden und nachmittags noch mal zwei Stunden laufen muss.

Schmerz als Inspiration

Und ich kann einfach nicht leugnen, dass mich diese Gnadenlosigkeit irgendwie inspiriert hat. Ich muss im Mai einen langen Etappenlauf absolvieren. Na ja, ich habe mir das selbst ausgesucht, aber bis vor Kurzem war da ständig eine Art Angst im Nacken. Die ist einer großen Lust gewichen. Ich ertappe mich inzwischen dabei, mich über einen Muskelkater regelrecht zu freuen. Anstatt mich dann auf die faule Haut zu legen, wird direkt ein Lauf eingeplant. Ich empfinde es nicht mehr als störend, wenn bei einem langen Lauf meine Oberschenkel mit meinen Waden debattieren, wer es schwerer hat. Es ist ein Übel, das ich gerne ertrage. Nicht direkt umarme, aber eben ertrage. Denn ich sage mir jetzt immer: Wenn ich diesen leichten Schmerz oft genug fühle, wenn ich nur oft genug einfach weiterlaufe, vielleicht tritt dann ja so etwas wie eine Gewöhnung ein.

Ich spüre lieber jetzt im Training den Schmerz als später bei meinem Etappenlauf. Man könnte auch sagen: leiden für die Zukunft. Und es wird niemanden verwundern, dass sich durch dieses Anden- Schmerz-Gewöhnen automatisch auch alles andere verbessert hat. Meine Grundgeschwindigkeit ist besser, meine VO2max hat sich seit letztem Sommer um ganze vier Punkte hoch gehangelt, und zudem habe ich an Gewicht verloren. Das mit Abstand Tollste ist aber, dass meine Angst vor der großen Aufgabe im Mai einem gesunden Respekt mit einer ordentlichen Prise „Bock drauf“ gewichen ist.

Wo ich vorher bangte, dass ich vor Schmerzen nicht mehr laufen könnte, freue ich mich jetzt auf ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten. Klar, verletzen kann man sich immer, aber irgendwas in mir freut sich fast schon auf die schweren Momente, denn die trainiere ich ja gerade. Natürlich würde ich noch immer verneinen, wenn man mich fragt, ob ich auf Schmerzen stehe. Nein, ich stehe viel mehr auf Laufabenteuer, auf Kilometer machen, Schwitzen, das Essen nach der Anstrengung – aber wenn Schmerzen mich daran hindern wollen, genau das genießen zu können, dann muss ich mir die halt auch irgendwie schön saufen. Von einem, der auszog, das Leiden zu lernen.

Text: Philipp Jordan

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