DNF – die ungeliebten Buchstaben
Es gibt wenig Abkürzungen, die im Ausdauersport ungeliebter sind als das Akronym DNF: Did Not Finish. Man ist zwar ins Rennen gestartet, hat die Ziellinie aber nie überquert. Doch Aufgeben ist mehr Chance als Schmach. Und aus Fehlern lernt man bekanntlich am besten.
Wir saßen neben dem „Poco Loco“, ein kleines Burgerrestaurant in Chamonix und schwiegen. Die anderen aßen, ich nippte an meinem Kaffee und versuchte, gleichgültig zu wirken. In der Stadt herrschte große Aufregung und die Straßen waren überfüllt mit Trailrunning-Fans, Athleten und Media-Teams. Alles wuselte, alles war fröhlich, alle feierten den Sport und sich selbst und ich hatte nur den einen Wunsch: dass sie sich alle zum Teufel scherten. Ich stand auf und ging ein paar Schritte. Die Tränen kamen wie von selbst, eine Mischung aus Enttäuschung, Selbstmitleid, Wut und Neid. Die Geschehnisse der vergangenen Stunden holten mich immer wieder ein. Ich wägte ab, redete mir ein, dass die Entscheidung richtig gewesen war. Zwecklos. Das DNF – Did Not Finish – schwebte wie eine dunkle Regenwolke über mir und ich schämte mich dafür.
Man kann nicht alles haben
In den letzten Monaten war ich oft unterwegs, ständig am Sprung, wenig zu Hause – in Chamonix anzukommen war dadurch unmöglich. Was mir fehlte war Stabilität. Mein eigener Rhythmus, Struktur, die maßgeblich für sportliche Leistung ist. Ein einfacher, aber wirksamer Tagesablauf aus Training, Erholung, Arbeit und Essen. Als Leistungssportlerin bin ich viel und oft unterwegs und passe mich an die neuen Umstände an. Die Basis dafür ist ein Zuhause, das ich kenne und dessen vier Wände mir ein Gefühl der Gewohnheit und des Rückzugs bieten. Ich brauche dieses Sicherheitsgefühl der Routine nicht nur als Läuferin. Meine ganze Persönlichkeit basiert darauf – verliere ich die Kontrolle, verliere ich über kurz oder lang auch mich selbst.
Die vergangenen Monate und der darin enthaltene Mix aus Umzug, Reisen, Abstrichen und verloren gegangener Routine forderten nun ihren Tribut. Ich spürte eine Müdigkeit in mir, die ich nicht mehr loswurde, ganz egal, wie viel ich auch schlief. Im Training konnte ich dieses Gefühl einigermaßen ablegen, oder zumindest dank meiner Disziplin immer wieder überwinden. Am Renntag gelang mir das jedoch nicht mehr. Die Kombination aus (selbstgemachtem) Leistungsdruck und der natürlichen Anspannung, die Wettkämpfen anhaftet, ließ meinen Körper streiken.
Das DNF beim „Marathon du Mont-Blanc“ hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, ein mehr schlecht als recht erkämpfter fünfter Platz beim „Zugspitz-Ultratrail“ eine Woche zuvor, hatte bereits daraufhin gedeutet: ich war dünnhäutig, sehnte mich nach einer Pause und nach meinem Balkon. Mentale Stärke kann einen Magenkrampf oder müde Beine überwinden. Ein schwacher Geist ist dazu nicht in der Lage. Mir fehlte Selbstvertrauen und meine Leistungen stagnierten. Ein negativer Kreislauf aus Misserfolgen und Selbstzweifel, entstanden aus dem Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören.
DNF? Am Ende entscheidet der Kopf
Inzwischen sind ein paar Tage vergangen und Chamonix ist wieder in der üblichen Normalität angekommen. Reisegruppen schieben sich durch die Fußgängerzone, Outdoor-Enthusiasten sitzen nach langen Tagen am Berg in Cafés und überall duftet es nach Croissants. An den „Marathon du Mont-Blanc“ erinnert nichts mehr, nur vereinzelte Straßenmarkierungen sind noch übrig. Ich selbst bin auf einem guten Weg, komme immer mehr an. Wettkämpfe werde ich in den nächsten Wochen keine laufen. Ich möchte den Druck beim Laufen rausnehmen und mich dadurch wieder auf den Spaß beim Laufen fokussieren. Ich möchte für mich trainieren, nicht für das Gefühl, etwas beweisen zu müssen.
Leistungssportlerinnen und Leistungssportler müssen in ihrem Job immer wieder über die eigenen Grenzen gehen. Schmerzen hinzunehmen, gehört ebenso dazu, wie Verzicht zu üben. Das Training ist gesetzt, es ist Teil des großen Ganzen. Tag für Tag aufzustehen, immer wieder loszulaufen, einen Schritt vor der anderen zu setzen, hart bleiben und nach einem Misserfolg weiterzumachen, all das ist Teil des Jobs. Es gibt Rückschläge, aber sie sind das, was man selbst daraus macht. Man kann sich auf die negativen Aspekte fokussieren, oder die positiven Learnings für sich und die Zukunft mitnehmen.
Am Ende ist nicht entscheidend, wer die schnelleren Beine hat oder wer weniger wiegt. Es kommt auf die Einstellung an, auf die Bereitschaft, alles zu geben und noch mehr. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Sportdokumentationen angeschaut und mich von verschiedenen Athletinnen und Athleten inspirieren lassen. Was ich dabei hören wollte, war, dass alle einmal scheitern und dass man daran sogar wächst. Es sind Erfahrungen und es sind Momente, die etwas verändern. Ich wollte hören, dass man fallen darf, solange man wieder aufsteht. Also sitze ich nun tagtäglich auf meinem Balkon in meinem neuen Zuhause und gebe mir Zeit. Zeit zum Ankommen, bei mir und meinen Zielen. (Text: Kim Schreiber)