Foto: Jan Lau

Dünner, schneller, weiter

Laufen hat viele Facetten. Meist positive. Was passiert jedoch, wenn Sport zur Sucht wird? Unsere Autorin war selbst betroffen. Als Essgestörte lief sie bis ins Koma, um noch dünner zu werden.

Ich muss dieses eine Intervall noch laufen. 800 Meter. Ich muss. Hundert Meter, zweihundert Meter. Dann der Blackout. Ich sehe schwarz, mir ist schlecht, ich muss mich setzen. Mitten im Wald. Es regnet, ich bin verschwitzt. Zum Glück habe ich ein Handy dabei. „Mama“, sage ich, „mir geht es irgendwie nicht so gut, hol mich bitte ab! Ich bin an der Kreuzung bei der Wanderkarte.“ Meine Mutter findet mich schnell. Im Auto kann sie mich gerade so bei Bewusstsein halten. Mein Intervalltraining endet an der Infusion.

Sekundäre Sportsucht

Das war 2015. Ich war 19, 172 Zentimeter groß und wog 46 Kilogramm. Das ist ein Body-Maß-Index von 16, mäßiges Untergewicht. Damit fand ich mich weder dünn noch diszipliniert genug. Mein Ziel: starkes Untergewicht. Um weiter abzunehmen, kombinierte ich das Hungern mit Sport. Erst fuhr ich Rad, dann las ich auf diversen Fitness-Portalen, Joggen verbrenne die doppelte Menge an Kalorien. Also begann ich zu laufen – und zu hassen. Laufen war elende Schinderei. Ich fand es anstrengend und langweilig. Trotzdem habe ich mir sechsmal die Woche die Laufschuhe geschnürt. Ich musste. Das nennt man sekundäre Sportsucht – also eine Sportsucht, die im Rahmen einer Essstörung auftritt.

Viele Essgestörte treiben Sport, um noch dünner zu werden. Sie unterwerfen sich rigiden Trainingsplänen – und haben Schuldgefühle, wenn sie die nicht einhalten. „Ich habe Essgestörte gesehen, die noch mit offenen, blutigen Füßen laufen gehen“, erzählt Prof. Almut Zeeck, sie ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin am Uniklinikum Freiburg. Den Begriff „Sucht“ findet sie jedoch problematisch, weil nicht jede Betroffene in exzessivem Maß Sport treibe und nicht alle Kriterien einer Sucht erfüllt seien. Nicht jede Betroffene etwa ist ängstlich und reizbar, wenn sie mal nicht laufen geht. „Aber wenn jemand zwanghaft und ohne Spaß Sport treibt, nur um abzunehmen, ist das pathologisches Sporttreiben“, sagt Zeeck. Circa 30 bis 35 Prozent der Essgestörten seien betroffen.

Zahlreiche Betroffene

Um mit anderen Betroffenen zu sprechen, poste ich Aufrufe in einigen Läufergruppen auf Facebook. Ich habe selten so viele Likes bekommen. Viele freuen sich einfach, dass das Thema angesprochen wird. Einige sind aber auch bereit, einer Wildfremden ihre Geschichte zu erzählen. Eine davon ist Patricia Schwärzle. „Ich bin früher nie aus Liebe zum Sport oder zu meinem Körper gelaufen. Eigentlich genau aus dem Gegenteil“, sagt sie. Patricia Schwärzle hatte Bulimie. Auch sie hat vor einigen Jahren zum Laufen gefunden, weil sie noch mehr abnehmen wollte. „Am Anfang war das nur Drill, ich konnte kaum zwei Kilometer durchhalten“.

Aber sie hat einen inneren Zwang verspürt, es trotzdem zu tun. Andererseits habe das Laufen ihr auch geholfen. „Ich bin in der Zeit sehr oft mit einer negativen Stimmung aufgewacht“, erzählt sie. „Aber wenn ich es dann trotzdem irgendwie geschafft habe, laufen zu gehen, habe ich mich den ganzen Tag viel besser gefühlt.“ Sie bekam gute Laune und fühlte sich wohler. Ich weiß, wovon sie spricht. Vor dem Laufen verspührte ich oft einen inneren Druck, der mir sagte: Du bist zu dick! Das Laufen hat ihn beseitigt, wenigstens für ein paar Stunden. Noch dazu waren die verbrannten Kalorien die Erlaubnis, etwas zu essen.

Drei Nüsse zum Beispiel, gepaart mit drei Rosinen. Sport habe kurzfristig positive Auswirkungen auf den Körper und das psychische Befinden, erklärt Almut Zeeck. Ein besseres Körpergefühl und die Aufhellung der Stimmung seien neben dem Abnehmen die Hauptgründe zum Sporttreiben. „Aber auf Dauer ist das ein Teufelskreis.“ Denn die Wirkung halte maximal zwei Stunden an. Dann wachse der Drang, laufen zu gehen. Die positive Wirkung erhöhe die Gefahr, exzessiv Sport zu treiben.

Wege aus der Essstörung

Laufen, hungern, laufen, umkippen – wie durchbricht man den Teufelskreis? Jedenfalls nur in seltenen Fällen, indem man komplett mit dem Sport aufhört. „Aber Laufen allein ist nicht die Lösung“, erklärt Fachärztin. An der Freiburger Universitätsklinik wollen sie und ihre Kollegen einen gesunden Umgang mit Sport vermitteln. Betroffene sollen ihn nicht mehr als Mittel zum Abnehmen sehen. In der Therapie machen sie Ballspiele und Pilates, „viel in der Gruppe“. Denn einer der wesentlichen Reize, den das Laufen für Essgestörte ausmacht: Sie können es allein machen. Niemand spricht sie an auf den dünnen Körper, niemand will nach dem Training eine Pizza essen gehen.

Manchmal kann der Weg aus der Essstörung aber doch laufend genommen werden. Dann nämlich, wenn man im Laufen mehr sieht als ein lästiges Mittel zum Zweck. Am ehesten gelingt das laut Zeeck Betroffenen, die schon vor der Essstörung Sport gemacht haben „und diesen als positiv und wichtig empfunden haben“. Patricia Schwärzle war eigentlich immer ein Sportmuffel. Trotzdem hat sie diesen neuen Zugang zum Laufen gefunden. Der Auslöser war ihr erster Zehn-Kilometer- Wettkampf. Dort hat Schwärzle zum ersten Mal Ehrgeiz gespürt. Zum ersten Mal ging es ihr um das Laufen an sich. „Ich habe Leidenschaft in mir aufkeimen gespürt“, sagt sie. Aber sie wusste: „Wenn ich besser werden will, dann muss ich meinem Körper was Gutes tun und mehr essen.“

So hat das Laufen ihr auf dem Weg zum normalen Essverhalten geholfen, auch wenn es dabei natürlich Rückschläge gab. „Manchmal dachte ich, abnehmen zu müssen, um schneller zu werden.“ Aber sie habe gelernt, sich weniger mit Ernährung zu beschäftigen. „Ich darf mich nicht im Internet mit den ganzen Leuten umgeben, die von Sport nur im Zusammenhang mit Fitness und Abnehmen reden.“ Heute, sagt sie, „geht es mir sehr gut mit dem Thema.“ Schwärzle läuft 40 bis 60 Kilometer pro Woche, trainiert für ihren ersten Marathon. Als sie im Sommer zwei Monate verletzt war, hat sie das zwar genervt – aber mehr eben auch nicht.

Während unseres Telefonats habe ich ziemlich viele Déjà-vus. Auch ich habe mich irgendwann zu Wettkämpfen getraut, belohnte mich mit normal gefüllten Tellern, verließ den immer gleichen Asphalt. Per Zufall bin ich bei einem Trail-Lauf in Innsbruck die Rookie-Strecke gelaufen. Tempo, Intervalle, Kalorien – das war auf diesen 17 Kilometern total egal. Es ging um das Laufen an sich. Jan Lau Noch dazu habe ich dort Ultraläufer kennengelernt, und nicht nur gestaunt, wie lange die laufen, sondern auch, wie viel die essen. Das wollte ich auch.

Spaß muss es machen

Zwei Jahre ist das her. Heute wiege ich fast 20 Kilogramm mehr als an jenem Nachmittag, an dem ich umgekippt bin. Ich laufe zur Arbeit, zum Einkaufen, vor allem: zum Spaß. Nächstes Jahr steht der erste „Hunderter“ an. Laufen ist für mich viel mehr als ein Sport. Es hat mich aus der Magersucht geholt. Und doch, ich gehe eben auch laufen, wenn die Wade zwickt. Ich habe das ganze Jahr nicht mehr als drei Ruhetage am Stück gemacht, auch wenn ich es mir immer mal wieder vorgenommen habe. Patricia Schwärzle hat Recht: „Es bleibt eine Gratwanderung.“

Aber nicht alle Essgestörten entwickeln eine sekundäre Sportsucht, wenn sie laufen gehen. Das betont auch Almut Zeeck vom Uniklinikum Freiburg. „Gerade bei Menschen mit einer Bulimie, die sonst keinen Sport treiben, kann Laufen durchaus eine Hilfe sein.“ Eben weil es sich positiv auf Stimmung und Körpergefühl auswirkt. Voraussetzung bleibt der reflektierte Zugang: Laufen als Auszeit, nicht zum Abnehmen. Maxi Heerkens ist das Paradebeispiel für das „Heilmittel Laufen“. Auch sie hat sich auf Facebook gemeldet. Sie sei eine „trockene Bulimikerin“. Jahrelang ging ihr Gewicht hoch und runter. Übergewicht, Untergewicht. „Irgendwann habe ich gedacht: Ich muss jetzt was tun.“

Heerkens lief los. Und fand ein Hobby, mit dem sie nicht nur ihr Gewicht normal hält, sondern eines dass ihr auch emotional guttut. Beim Laufen lerne sie ihren Körper und sich selbst kennen und lieben: „Was der alles leistet!“ Vorher war das Essen ihr „Ventil“, jetzt ist es das Laufen. Aber Heerkens will verhindern, dass es zum Zwang wird. „Ich höre sehr genau auf meinen Körper“, sagt sie. „Wenn ich merke, dass es zu viel wird, dann höre ich auf.“ Deshalb zögert sie, ihren ersten Ultra zu laufen, obwohl sie es sich zutrauen würde. „Ich habe Angst, in ein Mehr-Mehr- Mehr zu geraten.“

Text Luise Anter

Unsere Autorin

Alter: 23
Wohnort: München
Sportliche Erfolge:  5. Platz Sachsentrail 2018
Beruf: Freie Journalistin

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