Lächelnd Laufen - Tokyo Marathon 2017 aus aktiv laufen
Bild: Getty Images

Lächelnd laufen

Japan ist ein Land in Bewegung. In kaum einer anderen Region der Erde wird Stillstand so sehr als Rückschritt empfunden wie hier. Und das ist kein Klischee. Laufen­ ist in Japan viel mehr, es ist Kultur.

Text: Jan Brockhausen

Den Blick starr nach vorn gerichtet hasten Menschen durch die engen Häuserschluchten Tokios. Fast scheint es, als würden sie sich hier in Japans Hauptstadt noch ein bisschen schneller bewegen als anderswo. Wie ein lebendiges Symbol der Geschäftigkeit dieser rastlosen 9,4-Millionen-Einwohner-Metropole auf der Hauptinsel Honshu steht dabei eine große Kreuzung. Eine Kreuzung, auf der kein Auto fährt. An der Westseite des Bahnhofs Shibuya beherrschen stattdessen Fußgänger die Szenerie. Einem Feldzug gleich setzen sich hier bei einer einzigen Grünphase bis zu 15.000 Menschen aus allen Richtungen gleichzeitig in Bewegung.

Für einen flüchtigen Moment scheinen sie zu einer einzigen bunten Masse zu verschmelzen, um sich dann auf der anderen Seite der Straße auf wundersame Weise wieder zu entknoten. Rastlos wie die Fußgänger auf dieser Kreuzung wirken viele der 127 Millionen Einwohner  des Landes am anderen Ende der Welt. Nicht nur im Alltag spielt die schnelle Gangart im Land der aufgehenden Sonne eine beherrschende Rolle. Auch in der Freizeit – als bewusster Ausgleich zum oft harten Berufsalltag – hat das Laufen in Japan fast schon eine kulturhistorische Dimension. So sagt man über Ninja, die im vorindustriellen Japan für konspirative Tätigkeiten als Kundschafter, Spione oder Saboteure eingesetzt wurden, dass sie an nur einem Tag einen 80 Kilometer entfernten Ort erreichen und anschließend wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren konnten. Eine beachtliche Leistung und der Beweis dafür, dass Laufen schon im ausgehenden 15. Jahrhundert zu den herausragenden Fähigkeiten japanischer Kriegskultur gehörte.

In der Gegenwart sorgt Japans derzeit vielleicht einflussreichster Schriftsteller Haruki Murakami dafür, dass das Thema auch in der Literatur große Beachtung findet. Denn zwei Leidenschaften bestimmen das Leben des berühmten Autors: Schreiben und Laufen. Für Murakami, dessen Werke sich nicht nur in der Heimat millionenfach verkaufen, bedeutet das Laufen ein zweites Leben, in dem er sich Kraft, Inspiration, vor allem aber die Zähigkeit zum Schreiben holt. In seinem Werk „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ philosophiert der Marathon- und Ultramarathonläufer sowie mehrfache Boston-Finisher in autobiographischer Form über die Analogie von Laufen und Schreiben. „In seinem neuen Buch schmiegt sich der Text so glatt und elegant an den Inhalt wie eine enge Läuferhose an ein schöngeformtes Bein“, rezensiert Alex Rühle 2010 Murakamis Lauftagebuch in der „Süddeutschen Zeitung“.

Aber nicht nur in der zeitgenössischen Literatur spielen Themen wie Bewegung, Antrieb und Vitalität in eine elementare Rolle. So wundert sich in Japan niemand darüber, wenn sich Business-Leute joggend durch die Stadt oder das Büro bewegen und dabei Geschäftigkeit oder Dienstbeflissenheit wie eine Monstranz vor sich hertragen. Auch Senioren, oft jenseits der 90, die tapfer ihre Runden durch die gepflegten Parkanlagen Tokios drehen, gehören wie selbstverständlich zum Stadtbild.

Marathon boomt

Bei uns sorgt das Verb „laufen“ manchmal für Verwirrung, kann es doch für zweierlei stehen: So wird der Begriff sowohl für normales Gehen als auch fürs Joggen verwendet. Im Japanischen hingegen wird „laufen“ in „aruku“ (für die langsamere Form) und „hashiru“ (für die schnellere) unterschieden. Ein interessanter Aspekt, könnte man daraus doch ableiten, dass der Fortbewegung zu Fuß im fernöstlichen Inselstaat eine große Bedeutung zukommt.

Diese Vermutung lässt sich auch empirisch beweisen – zumindest wenn man die Königsdisziplin Marathon als Grundlage nimmt. 2015 hat Japan, gemessen an der Zahl der Finisher, die bis dahin in Sachen Marathon weltweit führenden USA nach mehr als 50 Jahren ununterbrochener Regentschaft vom Thron stoßen können. Die Zahlen präsentierte Brett Warner nach Auswertung der ARRS-Statistiken (Association of Road Racing Statisticians) gerade erst auf seiner Website „Japan Running News“. Untersucht wurden alle Marathonläufe in diesem Zeitraum mit mehr als 1.000 Finishern (siehe Statistik-Kurve). Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht beachtlich. Denn nicht nur gemessen an der Einwohnerzahl (127 Mio. gegenüber 321 Millionen) kämpft das Land der Samurai eigentlich mit stumpfen Waffen. Auch was die Historie der international beachteten Läufe angeht, hinkt Nippon der US-Konkurrenz eigentlich meilenweit hinterher.

Der Lake Biwa Marathon, der seit 1946 ausgetragen wird – anfangs noch in Osaka, seit 1962 dann in Otsu – gilt als ältester Marathonlauf Japans. In Boston hingegen wird bereits seit 1897 über die Marathon-Distanz gelaufen. Das bedeutet, die USA haben fast 50 Jahre Vorsprung an Erfahrung auf diesem Gebiet. Umso erstaunlicher ist die jüngste Entwicklung hin zum Massenphänomen.

Ein Land von Läufern

Seit sich der Tokio-Marathon, zuvor nur für seine Eliteläufe bekannt, 2007 auch für den Breitensport öffnete, explodieren die Teilnehmerzahlen in diesen Wettbewerben in Japan förmlich. Zuletzt setzte sogar ein regelrechter Marathon-Boom ein. So lagen für den auf 36.500 Starter limitierten Tokio-Marathon zuletzt mehr als 300.000 Anmeldungen vor! Auch in der Breite hat sich viel getan. So gibt es jährlich mittlerweile 20 Läufe über die 42,195 Kilometer mit 10.000 Finishern oder mehr. Zum Vergleich: In Deutschland existieren derer drei!

„Die Begeisterung für diese Disziplin ist riesig“, sagt auch Sebastian Steenpaß. Der 27-jährige Master-Student für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität zu Köln befasste sich im Rahmen seines Studiums vor allem mit japanischer Populärkultur. Als Sohn einer Japanerin und eines Deutschen ist er zwar hier geboren und aufgewachsen, kennt aber – auch durch seine studentische Nebentätigkeit am Japanischen Kulturinstitut in Köln – beide Kulturen. „Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe 2009 und 2016 für insgesamt anderthalb Jahre in Tokio und Kobe gelebt.“ Seine Beobachtungen decken sich mit den Zahlen. „Man sieht eigentlich überall in den Städten Menschen, die Spaß am Laufen haben.

Gerade Ältere achten in Japan sehr darauf, möglichst lange mobil zu bleiben.“ Er liefert die Erklärung gleich mit: „Das hat auch gesellschaftliche Gründe.“ So lernten japanische Kinder bereits durch den morgendlichen Schulsport, dass Bewegung „zu einer besseren Gesundheit und mehr Motivation führen kann.“ Später finde diese Tradition „durch das Ritual des gemeinsamen Frühsports“ im Berufsleben ihre Fortsetzung. Leistungsbereitschaft und Vitalität als Triebfeder der japanischen Wirtschaft – beide Tugenden sind auch nötig, um einen Marathon erfolgreich zu absolvieren. Vielleicht rührt auch daher die Begeisterungsfähigkeit der Japaner speziell für diese Disziplin.   

Mehr als nur ein Hobby

Marathonläufer gelten ja mitunter als spezielle, manchmal sogar verrückte Typen. Zu diesem Schlag gehört Yuki Kawauchi. Der 29-jährige Japaner wird gerne auch als „schnellster Hobbyläufer der Welt“ bezeichnet. Anders als die Formulierung vermuten lässt, reiht sich der Athlet aus der Nähe Tokios allerdings auch bei Top-Veranstaltungen selten hinten im Klassement ein. Im Gegenteil: Kawauchi läuft regelmäßig in der Spitzengruppe mit. Nicht selten kommt er sogar als Sieger ins Ziel. Anfang 2011 wurde der Vollblut-Amateur in seinem Heimatland mit einem einzigen Lauf berühmt. Beim Tokio-Marathon sicherte sich der krasse Außenseiter damals in 2:08:37 Stunden als Dritter der Gesamtwertung und bester Japaner sensationell die Teilnahme an der Leichtathletik-WM in Daegu (Südkorea). Umso erstaunlicher ist diese Leistung, weil der Büroangestellte einer Abendschule in Kasukabe aufgrund beruflichen Verpflichtungen „nur“ auf ein Wochenpensum von vergleichsweise bescheidenen 150 Trainingskilometern kommt.

Deshalb versucht Kawauchi die fehlenden Einheiten durch Wettkämpfe zu kompensieren. So startete er allein 2012 bei neun (!) Marathons, von denen er fünf gewinnen konnte. Zwischen November 2009 und Mai 2014 bestritt der Japaner sagenhafte 35 Marathonläufe, davon 34 unter 2:20 Stunden und sieben unter 2:10 Stunden. Ein Wahnsinn, der jede konventionelle Trainingslehre mit Laufschuhen tritt. Kawauchi geht beziehungsweise läuft einen ganz eigenen Weg: „Alle sagen, dass man nicht viele Marathons in einem Jahr schnell laufen kann. Ich will den Gegenbeweis erbringen.“

Wo der unkonventionelle Läufer heute auftaucht, wird er von seinen begeisterungsfähigen Landsleuten gefeiert. Nicht selten kommen so auch zu den kleineren Veranstaltungen bis zu 30.000 Zuschauer an die Strecke. Nur um den „Wunderläufer“ einmal live zu sehen. Anders als in Japan üblich ist er nicht als Profiläufer in einer Firmenmannschaft angestellt. Yuki Kawauchi verzichtet sogar weiterhin bewusst auf die Unterstützung von Trainern und Sponsoren. Auch so kann Laufen in Japan sein.

In der Staffel zum Helden

Allerdings wird der Marathon in seiner Beliebtheit noch von einer besonderen Form des Staffellaufs, den so genannten „Ekiden“, übertroffen. Der populärste von ihnen, der „Hakone Ekiden“ ist im Land des Lächelns ein echter Straßenfeger.

Wenn die 21 Teams aus jeweils 10 Topläufern der Universitäten aus dem Großraum Tokio auf die 217,1 Kilometer lange Strecke gehen, hält eine ganze Nation den Atem an. Die Athleten, die wie Popstars verehrt werden, laufen aus dem schwülen Zentrum Tokios in die angenehme Sommerfrische von Hakone und zurück. Mehrere Millionen Japaner verfolgen das Geschehen eng gedrängt in mehreren Reihen live an der Strecke. Ein Vielfaches an Zuschauern sitzt wie gebannt vor den TV-Geräten. „Diese Veranstaltung gilt alljährlich als Höhepunkt der Straßenläufe in Japan“, schreibt Helmut Winter auf seiner Internetseite „germanroadraces.de“ über die ganz spezielle Laufveranstaltung. Übrigens konnte die Aoyama Gakuin University gerade erst bei der 93. Auflage des Traditionslaufs ihren dritten Triumph in Folge feiern, wobei die Siegerzeit von 11:04:10 Stunden deutlich hinter den Resultaten der Vorjahre zurückstand.

Mit oft mehr als 13-stündigen Live-Übertragungen im japanischen Fernsehen stellen die Ekiden in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung jeden Marathon in den Schatten. Renommierte Sportwissenschaftler der Laufnation im Nordpazifik sehen übrigens genau in diesem Wettbewerb die Ursache für fehlende Topzeiten im Marathon-Bereich. Ihre Begründung: Japans Laufelite würde sich vor allem auf die jährlichen Ekiden vorbereiten und dabei so verausgaben, dass Topleistungen über die Marathondistanz anschließend schlicht nicht mehr möglich seien. Fakt ist: Mit einer Zeit von 2:06:16 Stunden, gelaufen beim Chicago-Marathon 2002, hält Toshinari Takaoka immer noch den japanischen Landesrekord – und ist damit fast dreieinhalb Minuten langsamer als Kenias Weltrekordler Dennis Kipruto Kimetto (2:02:57 Stunden). Das sind im Marathon Welten!

Glaube und innere Einkehr

Das Laufen nimmt im spirituellen Japan mitunter religiöse Formen an. Im Land haben immer mehrere Glaubensformen friedlich nebeneinander koexistiert. Die wichtigsten sind der Shintoismus, der sich von der japanischen Urreligion herleitet, und der Buddhismus, der Japan im 5. oder 6. Jahrhundert erreichte. Heute gehören über 80 Prozent der Japaner beiden Hauptreligionen gleichzeitig an. Als Gegenpol zur rastlosen Geschäftigkeit gehören tiefe Religiosität und innere Einkehr überall in Japan zur gelebten Kultur. Um transzendente Erfahrungen zu sammeln, unterwerfen sich die Mönche in den vielen Tausend Tempeln überall im Land unterschiedlichsten  Formen  von Askese. Als eine der extremsten Formen gilt das „Kaihogyo“ – zu deutsch: die „Gipfelumkreisungs-Askese“. Sie wird von den Mönchen der Tendai-Schule praktiziert und verlangt den Teilnehmern fast schon Übermenschliches ab.

Nach einem streng festgelegtem Protokoll umrundet ein „Marathon-Mönch“, der das Kaihogyo absolviert, sieben Jahre lang in Perioden von jeweils 100 Tagen Nacht für Nacht den Berg Hiei bei Kyoto. Die zu bewältigende Streckenlänge steigert sich dabei von anfangs 30 Kilometern auf bis zu 80. Am Ende hat ein Läufer somit eine Strecke zurückgelegt, die einer Umrundung des Erdballs (37.500 km) entspricht. Weder Krankheit noch Verletzungen halten den Mönch von seinem nächtlichen Lauf ab. Im Gegenteil: Wird die Askese unterbrochen oder vorzeitig abgebrochen, sind die Mönche angehalten, Harakiri zu begehen. Laufen in Japan kann also tödlich sein.      

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