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Let`s go Volkslauf!

Eigentlich wollte unser Autor Philipp Jordan gar keine Volksläufe mehr laufen, aber irgendwie hat es ihn dann doch wieder hingezogen. Warum, und was für Erfahrungen er dabei machte, erzählt er Ihnen hier. Bitte begeben sie sich jetzt in den Startbereich!

Schon komisch. Wir Läufer trainieren fast täglich alleine in der Natur. Völlig einsam, nur mit Fuchs und Hase als Zeugen, üben wir unsere Sportart aus. Und doch scheinen wir unsere Höhepunkte immer an den großen Events festzumachen, wo wir zwischen schwitzenden Leidensgenossen durch Häuserschluchten stolpern und von Musik beschallt werden. Diese beiden Welten könnten unterschiedlicher nicht sein. Wer die Natur sucht, wird auf die Trailveranstaltungen ausweichen, aber auch da ist man inzwischen ja nicht mehr wirklich alleine. Und trotzdem scheinen gerade die großen Stadtläufe uns magisch anzuziehen.

Erinnerungen

Ich lernte Volksläufe als kleiner Junge kennen, da mein Vater ein passionierter (und guter) Marathonläufer war. Schon früh gewöhnte ich mich an den seltsamen Duft von Muskelölen im Startbereich, vermischt mit einer Note edelsten gegorenen Schweißes, der sich in alte Laufshirts gefressen hat. An Turnvereine, die selbst gebackenen Kuchen anboten, und Hallen, in denen man im Trubel seine Start­nummer abholte. Ich erfuhr, wie nervig jemand sein kann, dem man ein Mikro in die Hand drückt und sagt: „Ey, mach mal ein bisschen Stimmung im Start-Ziel-Bereich!“ Auch kenne ich alle Remix-Versionen von „Eye Of The Tiger“, sämtliche selbst gepinselten Schilder und vermeintlich lustigen Sprüche aus dem Publikum.

EIN GANZ SPEZIELLES FLAIR

Als ich viele Jahre später selbst an der Startlinie meines ersten Marathons in Köln stand, war das dann auch eine seltsam emotionale Mischung aus Nostalgie und Neuland. Aber warum laufen wir überhaupt bei solchen Veranstaltungen? Es ist ja nicht so, dass es nicht eine Menge offensichtlicher Vorteile gäbe.

Es ist schon angenehm, wenn man eine Marathondis­tanz laufen möchte und andere für einen die Strecke vorher genau ausgemessen und bei jedem Kilometer ein Schild aufgestellt haben. Nerviges Checken der Laufuhr entfällt somit. Zudem ist die Strecke abgesperrt, und weder Autos noch lästige Ampeln können einen bremsen. Das Publikum jubelt einem zu, egal wie unsportlich und langsam man aussieht. Glaubt mir, denn selbst mich haben sie beklatscht!

Beste Versorgungslage

Den Trinkrucksack mit seinen nervigen Schüttelgeräuschen kann man auch zu Hause lassen, da einem Getränke nicht nur zur Verfügung gestellt, sondern sogar in die Hand gereicht werden. Butler-Style! Und damit man die zarte Läuferseele nicht noch zusätzlich mit Zwischenzeiten und Kopfrechnen belastet, sucht man sich in der Menschenmasse einfach den Luftballon mit der gewünschten Zielzeit aus und läuft dem hinterher. Am anderen Ende des Luftballons hängt übrigens ein Läufer, dies sei nur zur Sicherheit am Rande erwähnt. Und zum Abschluss darf man sich dann noch mit einer Medaille behängen, die einen auf ewig an diesen Tag erinnern wird.

Kommen wir nun zu den Nachteilen dieser Spaßver­anstaltung. Man zahlt einen dicken Batzen Geld, um etwas zu tun, was man eigentlich täglich und überall gratis und umsonst tun kann. Während man beim täglichen Lauf – nervige Kläffer mal ausgenommen – völlig ungehindert laufen kann, muss man bei so manchem Stadtlauf regelrecht einen Slalom durch die Menschenmassen absolvieren. Aber schon im Startbereich stellt man fest, dass es immer noch Menschen zu geben scheint, die glauben, ein seit Wochen ungewaschenes, aber täglich genutztes Laufshirt bringe irgendwie Glück. Das olfaktorische Erlebnis ist wirklich ein Genuss.

Auch unsere audiophilen Freunde kommen natürlich auf ihre Kosten. Atemgeräusche irgendwo zwischen Darth Vader und dem letzten Röcheln eines sterbenden Schweins erquicken das Ohr. Gerne unterbrochen von „You reached three kilometers“-Ansagen irgendwelcher Lauf-Apps, die an Oberarme geklettverschlusst wurden, damit man ja nicht verpasst, wann man an den für alle sichtbaren Kilometer­schildern vorbeiläuft. Dann die nervigen Spaßvögel am Streckenrand, die einem schon bei Kilometer vier zurufen, dass es ja nur noch ein kleines Stück sei.

Optisch gibt es natürlich auch nie Grund für Langeweile. Man bekommt Menschen zu sehen, die mit Schaum vorm Mund mehr tot als lebendig wirken, und wieder andere, die mit ihrem Gürtel voller Wasserflaschen und Gels wirken, als würden sie in den Krieg ziehen.

AB AUF DIE STRECKE

Und trotzdem habe ich diese Laufveranstaltungen liebge­wonnen. Wir alle wahrscheinlich. Und so schrieb ich mich dieses Jahr für den Halbmarathon in meiner Heimatstadt Utrecht ein. Jedes Jahr lade ich am Abend vorher Hörer unseres „FatBoysRun“-Podcasts zu uns zur Pasta-Party ein, und so hat der Lauf mittlerweile einen traditionsartigen Charakter. Da ich leider mehrfach verletzt war, konnte ich die letzten vier bis fünf Wochen davor gar nicht trainieren und war dieses Jahr noch kein einziges Mal weiter als 10 Kilometer gelaufen – das machte somit den Lauf extra span­nend. Zudem bekam der Kurs in diesem Jahr einen neuen Veranstalter und eine neue Streckenführung. Ich hatte zwar ein wenig Schiss, aber gleichzeitig auch unglaublich Bock, endlich mal wieder was zu finishen.

Vollkommene Stille

Was ich besonders an Massenstarts mag, ist die Geräuschkulisse vor und nach dem Startschuss. Eben noch alle wild am Reden, Singen und Rufen, und sobald der Startschuss fällt, hört man nur noch das Publikum, den Sprecher und die Musik, aber um einen rum ist auf einmal alles still. Dann schiebt sich die Masse langsam immer weiter weg vom Startbereich, und es herrscht vollkommene Stille um einen herum (die Röchler haben ihren Einsatz meist erst ab Kilometer fünf, grobe Schät­zung).

Nichts als das Geräusch laufender Schuhe auf dem Asphalt. Ich liebe das. Ein Hörer hat mich im Startbereich angesprochen, und wir laufen zusammen, was ich immer sehr schätze, da es einen vom eigenen Leid ablenkt. Wir laufen das gleiche Tempo und genießen die Strecke. Nach circa sieben Kilometern bin ich mir sicher: Die Wade hält. Jetzt muss ich nur noch auch den restlichen Fettsack bis über die Ziellinie schleifen. Wird schon klappen. Ich mag die neue Streckenführung. Entlang einer Außengracht mit Hausbooten, Industrie und vielen Brücken. Ab und zu ein mobiler DJ, der die Menge anheizt. Mit Menge meine ich übrigens uns Läufer, denn das Publikum ist sehr dünn gesät und bis auf ein paar überenthusiastische Kinder eher Beob­achter als Anheizer. Und auf einmal bricht das Chaos aus.

EIN TOTALES DURCHEINANDER

Zunächst stießen auf einmal von links kommend die 10k-Läufer und -Läuferinnen auf unseren Kurs. Halt! Fake News! Es gab keine 10 Kilometer-Distanz, sondern einen „Kwart Marathon“, also Viertelmarathon. Finde ich eigent­lich vorbildlich, da so was Laufanfänger behutsam mit dem Marathon vertraut macht, und wer 10 Kilometer schafft, der schafft auch noch die 500 Meter extra. Aber kaum hatte das Feld versucht, den besten laufenden Reißverschluss der Welt zu imitieren, fing es wirklich an, problematisch zu werden.

Denn plötzlich war da eine Gabelung, allerdings wurde einem weder durch Schilder noch durch Ordner gesagt, ob man links oder rechts abbiegen muss. Ich musste also in Sekunden entscheiden, welcher Herde ich blind folge. Noch immer ungewiss, ob ich jetzt auch zum Kwart-Marathoni werde, gab es wenig später schon wieder so eine Situation. Geradeaus oder über die Brücke? Der Veranstalter war zwar zu geizig, um Google-Maps-Lizenzen zu erwerben, und hatte seine Karte sehr grob und mit viel Interpretationsspielraum auf die Website gesetzt, aber zum Glück reichte mir das, um zu wissen, dass wir über die Brücke mussten.

Emotionen

Wahrscheinlich zur Erheiterung stand knapp 500 Meter weiter ein Ordner, der auf einer gerade Straße, ohne Gefahr, sich zu verlaufen, mantramäßig rief, dass die Marathonläufer hier richtig seien. Oh danke – bei der Brücke wäre diese Information irgendwie wertvoller. Ich habe ihn dann auch drauf hinge­wiesen, dass er strategisch günstiger stehen könnte. Okay, vielleicht habe ich das Ganze unhöflicher formuliert und sogar noch mit einem Schimpfwort garniert, aber man ist ja nicht immer Herr seiner Emotionen.

Wenige Kilometer vor dem Ziel begegnete ich dann noch zwei Hörern, die eigentlich nur den Viertelmarathon laufen wollten, aber bereits 15 Km auf dem Tacho hatten. Ich habe meinen Hal­ben allerdings mit korrekter Distanz gefinisht, was in dem Fall reine Glückssache war. Bei der Gepäckausgabe dann ein ähnliches Chaos. Fast eine Stunde zwischen Hunderten Menschen eingequetscht, dicht an dicht. Zum Glück gab es keine Panik. Das wäre nicht gut gegangen. Auch pures Glück, dass die Läufer, die laut Nachrichtendurchsage im Straßenverkehr landeten, nicht angefahren wurden. Und trotz dieses Horror-Erlebnisses werde ich auch weiterhin an dieser völlig durchgeknallten Party teilnehmen, die sich Volkslauf nennt. Man braucht ja schließlich etwas, wofür man trainieren muss. Wir sehen uns im Startbereich!

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