Vor allem mehr Mensch sein
Unsere Welt steht Kopf. Eine Aussage, die sich (leider) nicht mehr nur auf das Chaos außerhalb der Landesgrenzen bezieht, sondern aktuell vielmehr auf das Unmittelbare, das Naheliegende. Das Hier und das Jetzt. Auf uns. Auf Dich und mich.
Wen also soll zwischen schwindender Menschlichkeit und wachsendem Rechtspopulismus ein Lauf über die Alpen interessieren? Was gibt mir das Recht hier zu schreiben und von den eigentlichen Problemen abzulenken? Ja, das sind Fragen, welche ich nicht beantworten kann. Dennoch brennt es unter meinen Fingernägeln. Nicht aus Mitteilungsbedürfnis, sondern aus Hoffnung. Und aus dem innigen Wunsch heraus mit meinen Worten bewusst zu machen. Es darf nicht der Groll und oder der Frust sein, indem wir uns verlieren, sondern die Hoffnung, der Mut und der Glaube an das Gute! Weniger Jammern, mehr lachen – ja auch über uns selbst, anpacken wenn es nötig ist, zusammenhalten wo und wann auch immer es geht und einfach wieder häufiger fühlen – weniger verkopfen. Mensch sein.
Wahrscheinlich wundert ihr Euch an dieser Stelle über meine Einleitung, welche –zugegeben- schroff wie die Alpen selbst erscheinen mag, aber eben das eröffnet, was sein soll: Ein Artikel zum Nachdenken, nicht zur Belustigung!
So sind bereits drei Wochen seit meinem, nein, seit unserem Zieleinlauf in Sulden am Ortler vergangen, aber noch nicht einmal annährend habe ich verarbeiten können, was auf diesen 270 Kilometern zwischen Deutschland und Italien passiert ist. Ungeordnete Gedanken im Kopf, nicht beschreibbare Emotionen in der Brust, abstrakte Blessuren am Körper.
Auf der einen Seite stehen da „nackten“ Fakten: ca. 270 Kilometer, 15.500 Höhenmeter im Auf- und im Abstieg, 7 Tage, von Fischen im Allgäu nach Sulden am Ortler.
Auf der anderen Seite gibt es Dinge, die sich nicht erklären lassen wollen. Sei es der Hunger, der von Etappe zu Etappe weniger wird oder der Schlaf, der von Nacht zu Nacht leichter statt fester wird. Die Leere, die nach dem Erreichen des Ziels einsetzt und das Gefühl, während einer Woche auf gewisse Weise untauglich für das „wahre Leben“ geworden zu sein.
Beschleunigte Entschleunigung, organisierte Unorganisiertheit; aus der Tasche leben, begrenzter Zugriff auf Nahrungsmittel der eigenen Wahl. Sieben Tage an denen man nicht dauerhaft erreichbar ist, an denen man seine ganze Aufmerksamkeit wirklich nur einer Sache widmet. Eine Woche, in der die Leistung des Körpers nicht als selbstverständlich genommen wird. Jeden Morgen stellt man sich wieder in die Startbox und hofft das Ziel zu erreichen. Von Tag zu Tag wächst der Respekt vor der jeweiligen Etappe, aber auch der Mut. Der Mut und der Wille. Und die Menschlichkeit! Das Miteinander!
1. ETAPPE: FISCHEN IM ALLGÄU — LECH AM ARLBERG
Entfernung 42,7 km, Höhenmeter im Aufstieg 2101 Hm, Höhenmeter im Abstieg 1430 Hm
Mein Transalp Partner Dennis und ich sind ein spontan zusammengewürfeltes Team. Das Team OrthomalSport1.
So richtig gut kennen wir uns nicht, sind jedoch beide voller Vorfreude. Unser Ziel heißt vom ersten Moment an „Sulden, und das verletzungsfrei – mit ganz viel Spaß!“
Dennis ist ein „Marathon in 3-Stunden-Mann“ und damit leistungsniveaumäßig natürlich weit über mir, nimmt dies aber gelassen. Die Schwierigkeit der ersten Etappe(n), besonders bei solch einem Laufleistungsunterschied, ist das richtige Tempo zu finden und sich „einzugrooven“. Noch sind wir recht emotionslos und kümmern uns – so wie alle andere Team- hauptsächlich um uns selbst, reden viel und testen das „Miteinander“ aus. Nach etwa 6 Stunden in Lech angekommen sind wir frohen Mutes, haben Hunger und klopfen Sprüche.
2. ETAPPE: LECH AM ARLBERG — ST. ANTON AM ARLBERG
Entfernung 26,5 km, Höhenmeter im Aufstieg 1.987 Hm, Höhenmeter im Abstieg 2.130 Hm
Auch wenn das Aufstehen nicht so lockerflockig wie gewohnt geht und die ersten Schritte vom Bett ins Bad etwas eckig sind, so sind wir immer noch gut drauf. Wir freuen uns auf die kürzeste der Etappen und starten weitestgehend ohne Anspannung in Richtung St. Anton.
Schnell kommen wir mit Läufern im ähnlichen Leistungsniveau ins Gespräch, tauschen Erfahrungen aus und lachen viel, hauptsächlich über flache Witze. Doch es gibt auch schweigsame Momente, Momente des Genusses und des Realisierens. Denn auch wenn die wunderbare, alpine Winterlandschaft locker für komprimierte 2000Höhenmeter entschädigt, so wird uns doch bewusst, dass wir uns alle, spätestens durch die heutige Folgebelastung, bereits ein wenig außerhalb unserer gewohnten Komfortzone befinden.
Noch 5 Etappen!
3. ETAPPE: ST. ANTON AM ARLBERG — LANDECK
Entfernung 43,1 km, Höhenmeter im Aufstieg 2.019 Hm, Höhenmeter im Abstieg 2.494 Hm
Heute ist der härteste Tag für mich, warum weiß ich auch nicht. Schon das Aufstehen fällt mir schwer, zum Frühstück bekomme ich keinen Bissen herunter und beim ersten Anstieg pumpe ich wie ein Maikäfer. Anhaltende Regenfälle in der Region haben die Trails in kleinen Flüssen und die Downhills zu unwegbaren Bobbahnen verwandelt. Gleich zu Anfang stürze ich, bin unsicher und habe plötzlich Angst – bei jedem Schritt. Das Wissen, das selbst der kleinste „Fehltritt“ das Aus für unser Ziel namens Sulden heißt, hängt wie ein Damoklesschwert über mir. Aus den flachen Witzen von gestern ist inzwischen rabenschwarzer Galgenhumor geworden und ich bin dankbar für jeden, der mir gut zuredet. Und davon gibt es viele. Plötzlich scheint der TransAlpineRun kein „Rennen“ im klassischen Sinne mehr zu sein, sondern ein großes Miteinander von vielen Läufern unterschiedlicher Herkunft, alle mit dem selbigen Ziel, verbunden durch die gemeinsame Leidenschaft. Wir laufen nicht um den Sieg, wir laufen für uns. Jeder mit jedem und für jeden.
Hände werden einander gereicht, Süßigkeiten geteilt und Mut zugesprochen.
Endlich in Landeck angekommen brauche ich Ruhe, Zeit für mich. Mental bin ich angeknackst. Auch ein paar Tränen rollen und Zweifel machen sich breit. Über 110 Kilometer haben wir bereits absolviert und langsam hängt die Frage nach dem Warum so tief wie die Wolken in den vergangenen Tagen.
Meine Erkenntnis aus dieser Etappe: Unsicherheit ist neben der Selbstüberschätzung vermutlich der größte Feind des TransAlpineRuns.
4. ETAPPE: LANDECK — SAMNAUN
Entfernung 46,5 km, Höhenmeter im Aufstieg 2.930 Hm, Höhenmeter im Abstieg 1.911Hm
Trotz des erbarmungslosen Weckerschellens um 5 Uhr morgens habe ich mich über Nacht gut erholen können, vor allem mental. Und so schwer mir auch gestern alles fiel; desto leichter scheint es heute zu sein. Das bergauflastige Streckenprofil der Königsetappe liegt mir deutlich mehr als das gestrige. Mut und Selbstvertrauen kommen langsam, aber stetig zurück und im Gegensatz zu vielen anderen Teams empfinden Dennis und ich auf der längsten Etappe weitaus mehr Freunde als Qual. Das ist wunderbar 🙂
Im Ziel realisieren wir: Über die Hälfte des Gore-Tex TransAlpineRuns haben wir schon hinter uns gelassen. Doch die Linie aus „Schon die Hälfte“ und „Erst die Hälfte“ ist fein, sehr fein – und wird von jedem Läufer persönlich gezeichnet.
Das Verhalten der einlaufenden Teams verändert sich langsam. Immer weniger wird „gefeiert“, immer mehr in sich gegangen. Das Erlebte versucht zu rekapitulieren, das Kommende abgeschätzt.
„Reicht meine Kraft?“, „Wird der Knöchel halten“ und „Wie soll ich nur noch mal über 100 Kilometer in 3 Tagen laufen“ tönt es leiste aus allen Ecken des Finisherbereichs, von jedem Tisch der Pastaparty.
Wir sind gleichermaßen ausgezehrt und entschlossen. Die längste Etappe hat „Körner“ gekostet, aber auch irgendwie stark gemacht. Zumindest im Kopf – die Hälfte überschritten zu haben ist immer gut, egal ob erst oder schon!
5. ETAPPE: SAMNAUN — SCUOL
Entfernung 40 km, Höhenmeter im Aufstieg 2227 Hm, Höhenmeter im Abstieg 2847 Hm
Die letzte Etappe in der Schweiz, bevor es Morgen nach Italien geht und wir unserem Ziel unsagbar nahe sein werden. Der Matsch auf den ersten vier Etappen hat wirklich viel Kraft und Nerven gekostet. So ist der Weg nach Süden gefüllt mit angeschlagenen Kriegern, der Streckenrand gesäumt mit bereits Ausgeschiedenen.
Auch mein Partner Dennis hat Verletzungspech, bleibt aber im Rennen und so heißt es für uns als Team eine zusätzliche Herausforderung zu meistern.
Mental sind alle angeschlagen. Das frühe Aufstehen, wenig Schlaf, Startanspannung, zunehmende Wehwehchen. Immer mehr Läufer laufen für sich, sind in sich gekehrt. Und trotz Stöpseln im Ohr und unsichtbaren Tränen in den Augen sind wir nicht mehr nur viele Zweier-Teams, sondern ein großes Team. Eine Mannschaft, eine Armee die gemeinsam über die Alpen marschiert. Bis zu einem gewissen Grad unaufhaltsam. Niemand soll mehr zurückgelassen werden, gemeinsam sind wir so weit gekommen, gemeinsam werden wir es auch nach Sulden schaffen. Jeder Versehrte wird beweint denn uns allen ist bewusst: auch wir könnten an dieser Stelle sein.
Das Konzentrieren wird zunehmend anstrengender, die Landschaft in ihrer Spektakularität unspektakulär. Gefühlt hatten wir doch schon alles gesehen, alles erlebt.
Was bleibt und was uns trägt sind (Eigen-)Humor, der Teamgedanke, die Gemeinschaft und der Wille. Wir alle haben irgendwo irgendwelche Schmerzen, doch wir reden ausschließlich positiv. Niemand jammert, niemand meckert!
6. ETAPPE: SCUOL — PRAD AM STILFSERJOCH
Entfernung 44,1 km, Höhenmeter im Aufstieg 1.692 Hm, Höhenmeter im Abstieg 1.974 Hm
Die Zeit während des TransAlps ist unwahrscheinlich intensiv. Konkurrenten werden zu Freunden, das Orga-Team zu Verbündeten. Unermüdlich klebt die Medical Crew vor jedem Start und nach jedem Zieleinlauf Füße zusammen. Seit nunmehr 6 Tagen dreht sich unser kleiner Kosmos mal nicht um das Weltgeschehen, um Business und oder Luxusproblemchen. Wir wissen auch nicht was Donald Trump wieder angestellt hat oder wie es um Nordkorea steht, und wahrscheinlich wollen wir es auch gar nicht wissen. Diese Anstrengung, diese Abgeschnittenheit – sie ist zum Genuss geworden, irgendwie. Ja, seit 6 Tagen ist unsere Welt auf eine ganz eigene Art und Weise in Ordnung. Anstrengend und entspannt zu gleich. Seit 6 Tagen trinken wir das Wasser aus Gebirgsbächen, freuen uns über Smileys am Boden und „10k to Go“ Schilder. Wir gehen früh schlafen, reden wenig und kämpfen eine Schlacht mit dem eigenen Selbst. Prioritäten haben sich verschoben, und auch die Wahrnehmungen. Tatsächlich werde ich wehmütig beim Gedanken daran, dass morgen alles enden soll.
7. ETAPPE: PRAD AM STILFSERJOCH — SULDEN AM ORTLER
Entfernung 32 km, Höhenmeter im Aufstieg 2.600 Hm, Höhenmeter im Abstieg 1.664 Hm
Man sagt, das Beste komme zu Schluss. Nun ja, im Fall des TransAlpine Run 2017 wohl das Härteste. König Ortler möchte keine Audienz abhalten und hüllt sich in dicke Nebelschwaden. Der Aufstieg über die Tabarettascharte erfolgt somit bei einer Sicht bis teilweise nur 5 Meter. Heftige Winde und Schneeregen verlangten unseren Körpern alles an Kraft ab, was noch übrig ist.
Und so ist es die Beharrlichkeit, die uns letztendlich ins Ziel bringt. Mühsam einen Schritt vor den anderen, immer wieder, gemeinsam und doch allein; jeder für sich. Mit einer Entschlossenheit welche den Boden unter uns erzittern lässt.
Und dann ist es plötzlich vollbracht, tatsächlich. Einfach vorbei. Lautes Jubeln, Tränen, Freude. Wehmut, Demut…. Zu viel für den Kopf zu verstehen, zu realisieren und zu verarbeiten. Unglaubliche Eindrücke, Erfahrungen und Momente, die sich schwer in schriftlicher Form wiedergeben lassen. Ca. 270Kilometer, in 7 Tagen über die Alpen von Deutschland nach Italien. „Kopf über Körper“, Grenzerfahrung und Reizüberflutung für alle Sinne.
Die Tage danach:
Zurück in der Hektik des Alltages, im Überfluss. Tiefes Durchatmen. Der Versuch zu Verstehen. Oder eben auch nicht. Spüren, nachspüren. Gedanken ordnen. Wunden lecken. Als Held feiern lassen?! Ja, das gehört sicherlich auch dazu, fühlt sich aber irgendwie nicht richtig an.
Man läuft nicht über die Alpen um irgendjemanden was zu beweisen. Man läuft über die Alpen weil man auf den 270 Kilometern so unglaublich viel lernen und erfahren darf, so viel realisieren kann, so viel versteht. Ich habe gleichermaßen genossen und gelitten, habe herzlich gelacht und auch mal laut geschluchzt. Ja, da waren große, ehrliche Emotionen – auf und neben der Strecke.
Der Alltag in den kommenden Tagen fällt mir schwer. Aufgezwungene Selbstverwirklichung und großer Egoismus wo man hinschaut, überall oberflächliches Grinsen welches das eigentliche Lachen vergessen lässt. Ellenbogen anstelle gereichter Hände. Ernsthaftigkeit statt flacher Witze oder Galgenhumor.
Ja, der Transalp ist ein Ausnahmezustand, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Und ich weiß auch das eine Welt, so wie sie eine Woche lang für uns funktioniert hat, nicht dauerhaft funktionieren kann. Aber die Erlebnisse und Erfahrungen zeigen dennoch: Zusammenhalt, Ehrlichkeit, Teamspirit und ehrliche Emotionen sind die Grundlage für ein starkes Miteinander unabhängig von Nation und Sprache, und genau mit diesem erreicht man Ziele, egal wie weit weg, egal wie abstrus.
Ich wünsche mir das sich dieser einzigartige Spirit des TransAlps auch ein wenig in den Alltag übertragen lässt. Trotz Hektik, trotz Multitasking und trotz Luxus.
Text: Sandra Mastropietro