100 Kilometer Wüste – eine Erfahrung fürs Leben
„Wer in die Wüste geht, wird nicht mehr derselbe bleiben, der er vorher war“, sagt ein arabisches Sprichwort. Und wer 100 Kilometer nonstop in der Sahara laufen will, muss schon etwas verrückt sein. Aber er macht wahrscheinlich eine der tiefgreifendsten Erfahrungen seines Läuferlebens.
Die weiß beleuchteten Zelte, die sich vom dunklen Horizont abheben, die großen Fahnen, die im Wind flattern, und das Starttor erscheinen wie aus einer fremden Welt. Am Himmel zeichnet sich ein kleiner Lichtbogen ab, der das Aufgehen der Sonne ankündigt. Es ist kaum in Worten zu fassen, was ich in diesem Moment denke. Und langsam nähern sich die Zeiger sechs Uhr. Ich starte den GPS-Track auf meiner Laufuhr und stelle mich in den Startbereich. Irgendwo tanzt eine Gruppe und singt. Einige schießen noch ein Foto, bevor sie sich in das Laufabenteuer stürzen. Mittlerweile stehen alle 100-Kilometer-Läufer hinter dem Torbogen zusammen. Vor uns ein paar Fotografen mit ihren grellen Fotolampen. Und dann ist es endlich so weit. Dieser Moment, auf den alle die letzten Monate und Wochen hingefiebert haben. Dieser Moment, an dem der Countdown gezählt wird und sich alles auf nur eine Zahl zu reduzieren scheint: 5-4-3-2-1 und los.
Ab in die Wüste – ein Abenteuer beginnt
Durch das Tor, hinaus in die Wüste, die einem alles abverlangt und doch so viel zurück gibt. Noch einen kurzen Moment nehme ich die Stimmen der Mitläufer wahr und höre dann nur noch das Rauschen des Windes und meine Schritte im Sand unter mir. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Der Wind weht mir bereits jetzt heftig ins Gesicht. Ich habe das Gefühl, kaum voranzukommen. Ich bin der Läufertyp, der erst mal seinen Rhythmus finden muss. Auch heute. Ich spüre eine leichte Übelkeit – innerliche Entspannung will sich partout nicht einstellen. Langsam geht die Sonne auf. Es ist jedesmal ein unbeschreiblicher Augenblick, wenn die Sonne in der Wüste gen Himmel steigt und sich die Landschaft im Minutentakt zu verändern scheint.
Ich bringe meinen Fokus recht früh in den „Step-by-step-Modus“ – einen Fuß vor den anderen setzen. Von steinigen, flachen Passagen wechselt der Untergrund immer wieder zu weichem Sand mit sanften Hügeln. Zwischendurch hebt sich der Sand vom Boden ab, um freudig über den Boden zu tanzen. So schön dieses Naturspiel auch anzusehen ist, hoffe ich bloß, dass sich kein Sandsturm zusammenbraut.
Der erste Abschnitt erscheint endlos – zum Glück hat sich mein Magen mittlerweile beruhigt. Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich die ersten Zelte. Ich bin erleichtert, als ich nach 20 Kilometern den ersten Checkpoint erreiche. Lange halte ich mich hier jedoch nicht auf: Wasser auffüllen, Salznüsse snacken, und weiter geht’s. Nach dem Verpflegungsstand läuft man noch eine kurze Strecke auf steinigem Untergrund, bevor man sich in einer mondähnlichen Landschaft wiederfindet. Je länger ich laufe, desto höher steigt auch die Temperatur. Leider ist der Wind noch immer erbarmungslos. Beim zweiten Checkpoint (Kilometer 31) bläht sich das Zelt verdächtig weit nach außen auf – selbst die freiwilligen Helfer fürchten um ihren Unterschlupf. Acht Kilometer später teilt sich die Strecke: Die 50-Kilometer-Läufer „dürfen“ wieder Richtung Ziel nach „Mos Espa“ laufen; für die 100-Kilometer-Läufer wird es jetzt erst richtig hart.
Die Schönheit der Wüste
Denn an der Kreuzung biegen wir auf die berüchtigte „Road of Death“ ab. Ein sechs Kilometer langer Abschnitt, der ausschließlich geradeaus über losen Sand führt und genau während der Mittagshitze bewältigt werden muss. Unter diesen Bedingungen erscheinen sechs Kilometer schier endlos. Monoton knirscht der Sand unter meinen Schuhen. „Einfach weitergehen. Der Körper macht das schon“, rede ich mir ein. Langsam zähle ich die Distanz runter. Noch fünf, vier, dreieinhalb, drei. Endlich entdecke ich nach einer kleinen Anhöhe ein weiteres Zelt. Es signalisiert nicht nur das Ende der „Road of Death“, sondern auch den nächsten Checkpoint, bei dem meine Dropbag auf mich wartet, um mir neue Energie für die zweite Hälfte des Rennens zu geben.
Nach einem kurzen Stop, während dessen ich vor allem Cola trinke, die bei anstrengenden Läufen Wunder wirkt, laufe ich weiter durch den gnadenlosen Sand, spüre den warmen Wind auf meiner Haut, doch fühle mich absolut frei. Es macht mich unendlich glücklich, in dieser grenzen- losen Weite zu laufen, im Einklang mit mir und meinem Laufschritt. Doch wie heißt es so schön? Während eines Ultra-Laufs liegen Glückseligkeit und Frust nur Bruchteile voneinander entfernt. Das mentale Tief trifft mich hart: Der weiche Sand unter meinen Füßen, das Gefühl, sich nur im Schneckentempo zu bewegen, der Stumpfsinn der Einöde und die Hitze. Von jetzt auf gleich wirkt alles niederschmetternd und zermürbend. Ich starre auf das Wellenmuster, das der Wind in den Sand gezeichnet hat, als plötzlich ein kleiner, rostbrauner Schmetterling an mir vorbeifliegt – ein Distelfalter, wie ich später recherchiert habe.
Als würde er über eine üppige Blumenwiese gleiten, dreht er kleine Schleifen in der Luft und zieht seines Weges. Ich bin total überrascht. Ein Schmetterling in der Wüste? Sofort ist mein Kopf klar und der Fokus zurück. Irgend- wann würde schließlich auch dieser lebensunfreundliche Ritt durch die Sahara sein Ende nehmen. Und tatsächlich taucht nur wenige Momente später die asphaltierte Straße auf, die zum nächsten Checkpoint führt. Man sollte meinen, nach den vielen Schritten auf sandigen Untergrund sollte es auf der Straße wieder „rollen“. Allerdings hat sich der Bewegungsapparat nach Stunden in der Wüste schon so sehr an den instabilen Untergrund gewöhnt, dass jeder Schritt auf Asphalt mir Kraft und Energie raubt.
Doch auch diesen Abschnitt bewältige ich: Den letzten Checkpoint vor dem Ziel erreiche ich nach einer Rückkehr auf sandigen Unterboden und mit 80 Kilometern in den Knochen. Am Verpflegungszelt mit seinen wehenden weißen Fahnen fühle ich mich schon jetzt wie eine Siegerin – während ich den Verpflegungspunkt letztes Jahr noch in der Dunkelheit erreicht hatte, komme ich heute bei Tageslicht zum letzten Checkpoint. Zur Sicherheit setze ich meine Stirnlampe auf, befestige den Leuchtstab am Rucksack, fülle noch einmal die Wasserreserven auf und nehme die verbleibenden 20 Kilometer in Angriff.
Gleichberechtigung, Sehnsucht, Demut
Der letzte Halbmarathon kostet noch mal richtig viel Energie. Denn 30 Minuten nach Verlassen der Verpflegungsstation senkt sich die Sonne langsam immer weiter Richtung Horizont, um die Wüste in ein tiefleuchtendes Rot zu tauchen. Das Licht meiner Stirnlampe hüpft auf und ab. Noch immer knirscht der Sand. Mein Rücken schmerzt von der Last, die ich seit Stunden schultern muss. Schmerzhaft spüre ich, dass sich an meinem kleinen Zeh eine große Blase gebildet hat. Jeder Muskel und jedes Gelenk schreien nach Stillstand. Zwanghaft kontrolliere ich meine Laufuhr im Sekundentakt.
Doch der Zielbogen lässt noch länger auf sich warten. Ich muss erst eine weitere von gefühlt hundert Dünen durchqueren, um die Lichter der Filmstadt „Mos Espa“ wahrzunehmen. Im diffusen Licht erblicke ich weiße Fahnen und Zelte. Und dann endlich auch den Torbogen – mein lang ersehntes Ziel. Das Adrenalin schießt durch meine Adern und lässt die Füße schneller laufen und das Herz stärker schlagen. Wie im Rausch schreite ich über die Ziellinie. Ich kann mein Glück und meine Erleichterung kaum beschreiben: In diesem Moment habe ich noch nicht realisiert, dass ich bereits zum zweiten Mal die 100 Kilometer durch die Sahara gelaufen bin. Erst nach einem schnellen Abendessen und einer Dusche im Hotelzimmer werde ich die Erlebnisse des langen Tages verarbeitet haben.
Die Abschlusszeremonie des UMED ist jedesmal etwas Besonderes. Denn jeder einzelne Läufer fühlt sich gewürdigt – einzigartig ist die Siegesprämie, denn Männer und Frauen erhalten absolut gleichberechtigt dieselbe Summe. Als wäre ein Ultra-Lauf durch die Wüste nicht schon ein Highlight, macht die Art der Veranstaltung – von der Organisation über das Event an sich bis hin zur Siegerzeremonie – den UMED unvergesslich. Es war mein zweiter Lauf in der Sahara, und auch dieses Mal habe ich das Gefühl, einen Teil von mir zurückzulassen. Ein Gefühl großer Freude und Befriedigung habe ich mit zurück in die Heimat genommen. Doch auch Demut und Sehnsucht. Demut vor der gewaltigen Natur, Sehnsucht nach der Leere der eindrucksvollen Einöde, die mich die unendliche Fülle des Lebens begreifen lässt. (Text: Tanja Braun)