Bild: Guido Lange

2.000 Kilometer durch das Baltikum

Es dauerte einige Zeit, bis ich wusste, was ich wirklich machen wollte. Klar habe ich meinen Beruf, meine Familie und ein gutes Leben. Erst recht, seit ich vor knapp sieben Jahren mit dem regelmäßigen Laufen begonnen habe – dreimal die Woche durch den Wald, das ist wirklich schön. Nun aber einmal geradeaus laufen, immer weiter, keinen Rundkurs, nicht von A nach B, sondern einfach geradeaus. Das wollte ich – und das mache ich jetzt!

Aktuell bin ich mittendrin in meiner Tour. Jetzt, im Moment, laufe ich quer durch Estland. Warum? Ganz einfach: Ich habe die Zeit dazu. Genau werden es 1.952 Kilometer sein, daran anschließend folgen noch 42 Kilometer beim Helsinki City Marathon, meiner letzten Laufetappe des Abenteuers.

Bis ich mich an den täglichen Lauf von circa 25 Kilometern gewöhnt hatte, vergingen einige Wochen. Der Start in Stralsund am 1. Mai war bilderbuchmaßig. Die ersten Tage lief ich hoch motiviert drauflos, trotzte dem ungewohnten kalten Wind von der See, den wir natürlich im Rheinland nicht haben. Meine erste Nacht verbrachte ich im Zelt, aber schon die nächsten Nächte erst mal in preiswerten Unterkünften. Denn eines hatte ich nicht bedacht: einen gewissen Etappenlaufeffekt. Nach dem Laufen fing ich an zu frieren, fand nicht schnell genug ins Warme, die Batterien wurden immer leerer. Ich erkältete mich, bekam das dann aber durch kürzere Läufe und Pausentage wieder in den Griff.

KALORIENFRESSER

Ich verbrauche jeden Tag rund 4.000 Kilokalorien. Bei Übernachtungen draußen im Zelt eben noch mehr. Die Kalorien muss man erst mal einfahren und durch den Körper schleusen, und zwar möglichst nicht während des Laufens.

Auch der Laufumfang ist stark erhöht: Normalerweise laufe ich 50 Kilometer pro Woche, nun also 150. Das sind im Schnitt sechs Tage à 25 Kilometer. Einen Pausentag pro Woche gönne ich mir. Ich habe nicht extra dafür „trainiert“, mein Kalkül war: Wenn ich nebenher nichts anderes mache, zum Beispiel arbeiten, dann müsste es gehen. Das ging auch gut, solange ich mich genügend nach dem Lauf dehnte. Aber wer hat dazu schon Bock? Einmal, in Estland, bekam ich ernsthafte Wadenprobleme, die Sehnen hatten keine Lust mehr auf meine Schlamperei. Ich musste zwei Wandertage einlegen und dehne seitdem wieder fleißiger.

Die Distanz meiner Etappen variiert zwischen 15 und 40 Kilometern, einmal bin ich sogar 49 Kilometer gelaufen – wow, mein erster Ultra! Es ergab sich einfach so, und wenn man schon mal auf einer Landstraße läuft, dann rollt es auch!

Apropos rollen: Meine Habseligkeiten ziehe ich in einem Wagen hinter mir her, insgesamt ca. 30 Kilo inklusive drei bis vier Liter Wasser. Ich will nicht wandern, sondern laufen, und das geht mit dem Wagen gut, mit einem Rucksack ginge das nicht. Ich habe auch keine Lust, schwer bepackt und bei kühlem Wetter eingemummelt loszustapfen. Auch auf dem Fahrrad bei Wind und Wetter frieren will ich nicht. Solange ich laufe, reichen ein Shirt und eine Tight sowie Schuhe für jedes Wetter, das ist echt toll. Das ist auch Freiheit.

VIELE ABENTEUER IN EINEM

Das beinahe tägliche Laufen, die Reise, die Erkundung des unbekannten Baltikums, das Zusammentreffen mit den Menschen – es ist genau so, wie ich es mir erträumt habe. Das Baltikum ist eben eine unglaublich vielfältige, kulturell und landschaftlich tolle Gegend. Seit meinem Start bin ich lange Zeit Richtung Osten und Norden mit dem Frühling mitgereist. Die Fliederblüte zum Beispiel hat mich acht Wochen lang begleitet. Und: Immer da, wo ich bin, ist die Hochsaison für Erdbeeren!

Gut, dass ich vor 35 Jahren Russischunterricht hatte. Ich habe es gehasst, aber jetzt kann ich es als zweite Fremdsprache neben Englisch gut gebrauchen; das Hirn kramt alles wieder hervor! Anfangs laufe ich oft auch über Stock und Stein, durch den Wald und am Strand entlang. Von Usedom bis Kap Kolka in Lettland könnte man ohne Unterbrechung am Strand durchlaufen (wenn für das Gepäck gesorgt wäre). Dazwischen gibt es keinen Blockstrand oder Ähnliches. Allerdings stellt sich mir die russische Grenze in den Weg. Ich bräuchte ein Visum und durfte nicht einfach an der Küste weiterlaufen. Grenzen sind entweder echt doof oder – wie ich es auffasse – ein echtes Abenteuer: Nach Russland darf man nicht als Fußgänger einreisen, und so machte ich meine Erfahrung mit dem Pragmatismus und der tiefen, guten Seele der Russen – konkret mit Rosa und Waldi aus Laduschkin, die mich über die Grenze mitnahmen – ein Abenteuer für sich!

Inzwischen in Estland, ist die Ostsee eher ein Süßgewässer mit Schilf und Sumpf am Ufer und steinigen Küsten. So laufe ich durch kleine einsame Ortschaften auf der Landstraße, entdecke die Saunakultur für mich und komme noch mal weiter runter. Der tägliche Lauf ist Gewohnheit, die Suche nach einem kleinen Lebensmittelladen hier draußen in der Einsamkeit ist auch ein Abenteuer für sich. Das ist das wahre Leben – die Bewältigung vieler kleiner Alltagsprobleme wird neu definiert. Davon zehre ich, wenn ich wieder an meinem Schreibtisch sitze. Das macht mich stark, resistenter gegen Stress, gelassener und offener im Kopf. Ich habe einfach mehr Optionen mit den Erfahrungen aus meinem Abenteuer Baltikum.

Text: Guido Lange

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