Innsbruck – Endloser Tag in der Nordkette (I)
Foto: Sportograf.com

Innsbruck – Endloser Tag in der Nordkette (I)

Meine Stirnlampe und die rot-blinkenden LED-Leuchten meiner Vordermänner sind die einzigen Lichtquellen in dieser pechschwarzen Nacht in Innsbruck. Die Trailrunning-Stöcke meine wichtigsten Helfer: Ohne sie würden die rund 6.000 Höhenmeter zäh. Aber die wichtigste Frage ist: Wie habe ich mich wieder in diese Situation manövriert?

Wieder Innsbruck. Wieder das „Innsbruck Alpine Trailrun Festival“. Dennoch ist an diesem Tag alles anders. Denn die „Masters of Innsbruck“ starten ihre Reise über 110 Kilometer an einem Freitag um Mitternacht. Und ich bin einer dieser Verrückten. Die bevorstehende Ultra-Distanz ist in den Stunden vor dem Wettkampf allerdings mein geringstes Problem. Mein Gedankenkarussell kreist um die richtige Verpflegung. Schließlich bin ich es gewohnt, Wettkämpfe morgens zu bestreiten. Das frühe Aufstehen, das Frühstück, der Kaffee, der Klogang – mein Morgen-Ritual habe ich über Jahre individualisiert und optimiert, um die bestmögliche Performance am Race Day abrufen zu können.

Dementsprechend bin ich am heutigen Wettkampf-Tag überfordert, wie ich den Tagesablauf gestalten soll. Klar, jeder Tag beginnt mit dem Frühstück. Allerdings lasse ich mich vom Hotel-Buffet dazu verleiten, etwas beherzigter zuzugreifen. In meiner Laien-Vorstellung bilde ich mir ein, das Frühstück bis Mitternacht angemessen verdaut zu haben. Bei 16 verbleibenden Stunden bis zum Start eine durchaus vertretbare Ansicht. Doch wie immer, ist es nicht die Menge, es sind die Lebensmittel an sich. Gegen Joghurt mit Früchten und Nüssen sollte kein Ökotrophologe Einwand erheben – wohl aber die Lauf-Experten, die immer wieder predigen, bei dem zu bleiben, was der Körper gewohnt ist. In meiner gesamten Vorbereitung bin ich noch nie auf Joghurt mit Früchten und Nüssen gelaufen. Rookie-Mistake.

Die Verkettung von Fehlern zieht sich durch den gesamten Tag. Viel schlimmer: Sie hatte bereits am Vortrag begonnen, als ich die Spaghetti „Al Arrabiata“ gegessen habe. Nudeln? Gut. Scharf? Nicht so smart. Der Flammkuchen zwölf Stunden vor dem Ultra-Lauf hat das Fass dann wohl überlaufen lassen. Möglicherweise aber auch der halbe Liter Kaffee am Abend, der mich energiegeladen durch die Nacht bringen sollte. An einen Powernap ist vor dem Wettkampf daher nicht zu denken. Das Koffein „kickt“, die Neuronen brechen jeden Streckenrekord, während sie meine Gedanken über das Netz der Großhirnrinde transportieren. Es sind die üblichen Gedanken, die meine Nervosität befeuern: Wie laufe ich das Rennen an? Wie und wann verpflege ich mich? Wann nutze ich meine Trailstöcke? Hab ich meine gesamte Pflichtausrüstung auch vollständig gepackt? Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Denn im Idealfall steht die Race-Strategie und wird ausschließlich in den Momenten angepasst, wenn Unvorhergesehenes eintrifft. Ich höre auf zu denken und lasse mich stattdessen von seichtem Entertainment ablenken.

Innsbruck – krampfhafter Start

An der Startlinie zerstört mein aufgeblähter Bauch sämtliche Hoffnung, die 110 Kilometer rund um Innsbruck ohne größere Probleme zu überstehen. Zu den Gasen in meinem Körper macht sich zudem noch Aufregung breit. Das letzte Mal, als ich so nervös war, wurde ich bei meinem mündlichen Abitur in Deutsch geprüft. Damals schickte mich das Gremium mit einer wohlwollenden vier Minus wieder nach Hause. Derartiges Mitleid kann ich heute vom „K110“ nicht erwarten. Die letzten Minuten vor dem Start sind episch: Die lauwarme Nacht ist sternenklar, die Musik elektrisierend und die Fans, die sich selbst kurz vor Mitternacht an den Streckenrand am Landestheater gestellt haben, sorgen für eine frenetische Atmosphäre.

(Foto: Sportograf.com)

Ich überquere die Startlinie im hinteren Feld des Teilnehmer-Blocks, um nicht gleich in kleine Wettrennen an der Spitze verwickelt zu werden. Die Läufer der 85-Kilometer-Distanz sind gleichzeitig mit uns gestartet – deshalb ist von einem hohen Anfangstempo auszugehen. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren hat der Veranstalter die Strecke leicht angepasst. Diese führt die Athleten jetzt auf Abschnitten der „World Mountain and Trail Running Championship 2023“, was mir im Verlauf des Ultra-Trails noch zum Verhängnis werden sollte. Zunächst laufen wir durch die Altstadt und vorbei am „goldenen Dachl“ – dem Wahrzeichen von Innsbruck. Über den Alpenzoo geht es hinaus Richtung Hall in Tirol. Meine Trailrunning-Stöcke kommen bereits nach zwei Kilometern zum Einsatz. Bei der Analyse des Streckenprofils hatte ich zuvor noch überlegt, die erste Hälfte des Wettkampfs ohne Hilfsmittel zu laufen. Meine Trainerin riet mir von diesem riskanten Vorhaben jedoch ab. Zum Glück habe ich ihren Rat befolgt. Die ersten Anstiege sind zwar nicht steil, dafür aber lang. Ohne unterstützendes Equipment hätte ich hier sicherlich einiges an Körner verschwendet.

Auf den Uphills bleibe ich in meiner Herzfrequenz-Zone, überhole die ersten Teilnehmer, die nach dem Start scheinbar durch die Innsbrucker Altstadt gesprintet sind, nur um den ersten Hügel im lockeren Wanderschritt zu erklimmen. Meinem Tempo schließen sich drei weitere Athleten an. Dummerweise scheint niemand von uns den GPX-Track auf seiner Laufuhr richtig lesen oder die Wegmarkierung finden zu können, weshalb die Gruppe auf der Hälfte des Anstiegs eine Abzweigung verpasst und fünf Minuten planlos nach der korrekten Route sucht. Dieses Schauspiel wiederholt sich im Verlauf des „K110“, zumindest für mich, noch einige Male – das verpasst der mentalen Stärke in solch einer Situation zwar einen Dämpfer, ist für das Gros der Teilnehmer aber irrelevant. Mit einem Platz auf dem Podium habe ich ohnehin nicht geliebäugelt. Ziel ist es, den Wettkampf bestmöglich zu laufen, Erfahrung auf der ultralangen Distanz zu sammeln und das Rennen zu genießen. Sofern man 110 Kilometer mit einem krampfenden Magen überhaupt genießen kann.

Teil zwei der Story.

  • Verbessere deinen Lauf!

    • Verpass keine Ausgabe mehr.
    • Sichere dir zwei Prämien.
    • Abonniere aktiv Laufen!
  • Abo

    inklusive

    2 Prämien