Innsbruck

Innsbruck – Endloser Tag in der Nordkette (II)

Teil eins der Story: Masters of Innsbruck – endloser Tag in der Nordkette.

Die Nacht verläuft wie im Flug: Flowige Trails führen uns über verzauberte Pfade – vorbei an den ersten Versorgungsstationen in Romediwirt und in Hall. Auf der südlichen Seite des Inntals bleibt die Route schnell und laufbar. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren bleibt uns der Anstieg zum Patscherkofel erspart, die Höhenmeter sammeln wir vermehrt in der zweiten Hälfte des Rennens – genau dann, wenn es richtig schmerzt. Aufgrund von starker Regenfälle im Mai ist die Sillschlucht leider nicht passierbar, daher führt uns die Strecke vorbei am „Bergisel“ auf die „Höhe Mutters“, ehe wir in der Nähe vom „Gärberbach“ zurück in die Schlucht laufen. Von hier gelangen wir wie gewohnt zum Verpflegungspunkt (VP) „ÖAMTC“ (Österreichische Automobil-, Motorrad- und Touringclub). Bis zu diesem VP bin ich entspannt unterwegs. All die Zeit hatte ich gedacht, dass ich mich wohl im Mittelfeld der 100-Kilometer-Teilnehmer befinde. Allerdings fassen zwei Jungs, denen ich mich angeschlossen hatte, das aktuelle Renngeschehen präzise zusammen: Demnach belegen die beiden 85-Kilometer-Athleten aktuell Platz zwei und drei. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich mich unter den Top Drei vom „K110“ befinden muss – es wäre unwahrscheinlich, dass die „Masters of Innsbruck“ sehr viel schneller als die 85k-Teilnehmer laufen. Der Leistungsdruck bleibt aus, stattdessen überwiegt der Ehrgeiz.

Steil und hochalpin

Ich werde jedoch schnell wieder auf den Boden der Tatsachen geholt: Nach knapp 48 Kilometern wird es richtig steil. Die nächste Versorgungsstation sowie meine „Dropbag“ – eine Tasche, in der Läufer weitere Nahrungsmittel oder Wechselkleidung deponieren können – warten auf der „Schlicker Alm“ auf einer Höhe von rund 1.600 m über null. Meine Energiedepots neigen sich zu diesem Zeitpunkt dem kritischen Füllstand. Die Verpflegungsstrategie, die mich schon erfolgreich durch den 100-Kilometer-Lauf in der Sahara gebracht hat, funktioniert nicht: Das Pulver für den Energy-Drink löst sich in meinen Softflasks nicht auf. Die kontinuierliche Versorgung mit wichtigen Kohlenhydraten bleibt somit aus. Der Anstieg zur „Schlicker Alm“ wird zum zähen Hike – im Wanderschritt erklimme ich den Uphill. Die zwei 85-Kilometer-Teilnehmer, an dessen Fersen ich mich so lange hab klammern können, sind nur noch winzige Silhouetten am Horizont. Die Strahlkraft der aufgehenden Sonne lässt den Schweiß auf meiner Haut verdampfen. Salzverkustet erreiche ich die Versorgungsstation, wo ich in Ruhe meine Dropbag empfange: Die Stirnlampe, die mich verlässlich durch die Nacht gebracht hat, wandert in die zusätzliche Tasche für Verpflegung und Equipment. Ich wechsle das T-Shirt, die Socken und meine Schuhe – das Modell mit Carbon-Platte soll für die zweite Hälfte des Wettkampfs für das Plus an Energie sorgen.

Rund 20 Minuten verbringe ich auf der Alm. Trotz des Energiedefizits lasse ich die Finger von fester oder ungewohnter Nahrung. Ein Wettkampf ist schließlich der falsche Zeitpunkt für Experimente. Selbst wenn ich mich total entkräftet über die Ziellinie schleppen muss, ein „DNF“ (Did not finish) aufgrund eines verstimmten Magens kommt heute nicht in Frage. Apropos Magen. Meine Bauchschmerzen haben sich bis zur „Schlicker Alm“ buchstäblich in Luft aufgelöst. Zumindest eine Baustelle, um die ich mich nicht mehr kümmern muss.

Die nächste Herausforderung wartet allerdings schon nach weniger als sechs Kilometern. Das Streckenprofil, was in diesem Moment den „Drei Zinnen“ in den Sextner Dolomiten ähnelt, zwingt mich erneut in einen zügigen Wanderschritt. 300 Höhenmeter auf einem Kilometer Distanz sind zu diesem Zeitpunkt für mich nicht mehr laufbar. Ebensowenig der technische Downhill, der mich an den Rand der Verzweiflung bringt. Vor zwei Jahren konnte ich mich beim „GGUT“ am Großglockner auf den langen Downhill-Passagen noch regenerieren, doch in dieser alpinen Gegend ist das Bergablaufen für mich als Flachländer unmöglich. Ab hier hat die Route nichts mehr mit dem zu tun, was uns auf der ersten Hälfte des Wettkampfs abverlangt wurde. Es geht kontinuierlich auf und ab – der nächste Verpflegungspunkt liegt auf 2340 m über null am „Hoadlhaus“. Hier werfe ich alle meine Vorsätze über Bord: Beherzt greife ich zu Studentenfutter, Salzbrezel, Müsliriegel und Cola. Selbst Energy-Gels, die ich im Training nicht getestet hatte, finden den Weg in meinen leeren Magen. Die möglichen Konsequenzen wandern in den Hinterkopf. Der Hunger und die Kraftlosigkeit überwiegen. Zudem macht mich die Strecke mit jedem Schritt wütender. Denn sowohl die Anstiege als auch die Downhills sind so steil und technisch, dass ich nur im Schneckentempo vorankomme. Ich versuche erst gar nicht eine höhere Pace aufrechtzuhalten, so groß ist der Respekt vor dem technischen Abstieg, der gerade eben Platz für einen einzelnen Läufer bietet. Allein mein Magen profitiert von der reduzierten Geschwindigkeit – selbst nach der explosiven Nahrungsmittelmischung habe ich keinerlei Probleme. Leider aber auch nicht bedeutend mehr Energie.

Überraschendes Finish

Am Ende dieses Abschnitts mit atemberaubenden Aussichten – die ich jedoch kaum wahrgenommen habe – geht es hinab zur Versorgungsstation in Grinzens. Zumindest hätte hier ein VP laut offizieller Streckenbeschreibung sein müssen. Nach rund 80 Kilometern in den Knochen kann es durchaus sein, dass ich mit einem Tunnelblick schlichtweg an der Wasserstelle vorbei gelaufen bin. Ärgerlich ist es trotzdem, weil die offiziellen Energy-Gels mir doch zusätzliche Kraft verliehen haben, der Blutzuckerspiegel jetzt aber ins Bodenlose zu rutschen droht. Ich hätte den Nachschub händeringend gebrauchen können.

Wer schonmal im Wanderurlaub war, der wird wissen, dass es auf der Strecke genügend Trinkmöglichkeiten gibt, wo man die leeren Flaschen wieder auffüllen kann. Die Versorgung mit dem flüssigen Gold war also kein Problem. Die Strecke führt mich über den „Axamer Panoramaweg“ nach Birgitz und dann über fast gewohntem Weg hinüber nach Kranebitten zur nächsten Versorgungsstelle. Hier tummelt es sich, denn an diesem VP treffen sich die Teilnehmer aller Distanzen. Eine letzte Mammut-Aufgabe steht uns allen bevor: Mehr als 1.000 Höhenmeter müssen bewältigt werden, um auf den Dächern Innsbrucks Richtung Ziel laufen zu können. Nach 90 absolvierten Kilometern und bei glühender Mittagshitze steht also ein langer Hike bevor. Ich sehe es positiv: Immerhin profitiert mein Teint.

(Foto: Sportograf.com)

Mit diesem positiven Mindset nehme ich den Anstieg in Angriff. Die Trailrunning-Stöcke schwingen im Gleichschritt, mein Tempo als zukünftiger „Master of Innsbruck“ ist deutlich schneller als das der anderen Teilnehmer. Und so hängen sich ausnahmsweise mal zwei weitere ambitionierte Läuferinnen an meine Fersen. Mir ists recht – geteiltes Leid ist halbes Leid. Für die nächsten acht Kilometer benötige ich fast drei Stunden. Allein der Gedanke an den bevorstehenden Downhill und der Weg zum Ziel hält meine Beine in der Rotationsbewegung. Am „Gipfel“ angekommen, schwingt plötzlich das Wetter um – der wolkenlose Himmel zieht sich mit dichten Regenwolken zu. Das leichte Nieseln wird schlagartig zum Sturzregen. Glücklicherweise befinde ich mich gerade auf dem Weg in den bewaldeten Downhill, der mich zurück nach Innsbruck führt. Euphorie macht sich breit, als mir meine Laufuhr den letzten zu laufenden Kilometer signalisiert. Entlang des „Inn“ laufe ich über die „Europaratsalle“ zurück zum Landestheater: Nach 113 Kilometern und einer Nettozeit von 16:32:01 Stunden wird mir die Finisher-Medaille um den Hals gehängt.

Völlig entkräftet und übermüdet werfe ich einen Blick auf mein Handy. Meine Mutter hat mir als erste gratuliert: „Well done Robson – 5th place, 112Ks – 5,570 altitude – amazing – sooo proud, wish we’d been there“. Ungläubig überprüfe ich die offiziellen Ergebnisse, weil ich aufgrund meiner langen Hiking-Passagen eine Platzierung unter den ersten 30 schon lange abgeschrieben hatte. Doch auf der Website steht es schwarz auf weiß: Das Podium habe ich zwar um mehr als 60 Minuten verpasst, allerdings darf ich als dritter meiner Altersklasse trotzdem auf die große Bühne. Es ist ein besonderer Moment in meiner Karriere als Ultra-Trailrunner – das einzige Problem? Die Sieger werden erst gegen 20 Uhr geehrt. Lange Tage auf den Trails, steile Anstiege und technische Downhills, um jeden Preis wachbleiben. Was tut man nicht alles dafür, sich am Ende des Tages als „Master of Innsbruck“ bezeichnen zu dürfen.

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