Hilfsmittel
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Wann sind orthopädische Hilfsmittel sinnvoll? (I)

Bandagen, Tapes und Schuheinlagen – an orthopädische Hilfsmittel werden unterschiedliche Hoffnungen geknüpft. Was ist sinnvoll und für wen?

„Die Zahl der Bandagen verrät dir die Zahl der Jahre“ – und zwar sowohl der Lebens- als auch der Trainingsjahre. Diese besonders unter Sportfreunden der reiferen Generation kursierende Frotzelei hat einiges von ihrer einstigen Gültigkeit verloren. Trotz immenser Materialentwicklung, trotz neuer trainingswissenschaftlicher Erkenntnisse, trotz Laufstilanalysen und Technikschulung – Beschwerden am Bewegungsapparat sind längst keine Domäne von Altersklassenathleten mehr. Die einst große Distanz zwischen Breiten- und Hochleistungssport ist geschrumpft. Die großen Teilnehmerzahlen bei Marathonveranstaltung sowie der starke Zulauf bei Ultra-, Long-Trail oder sonstigen Extrembelastungen haben die Grenzen zwischen freizeit- und profisportlicher Belastung verwischt.

Hohe Trainingsintensitäten, -umfänge und Wettkampffrequenzen gehen auch an relativ jungen Sehnen, Bändern und Gelenken oft nicht spurlos vorbei. Aber es sind nicht nur medizinische Gründe, die zu einem gesteigerten Einsatz orthopädischer Produkte geführt haben – über alle Altersklassen hinweg. Auch ohne Beschwerden oder Vorschäden werden Hoffnungen an verletzungspräventive Wirkungen sowie positive Einflüsse auf Lauftechnik, Belastungstoleranz und Leistungsfähigkeit in die orthopädischen Unterstützungssysteme gesetzt. Diese Entwicklung hat die „Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS)“, die größte europäische Vereinigung von Sportorthopäden und -traumatologen aus den „DACH“-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz), dazu bewogen, Aufklärungsarbeit zu leisten.

Hilfsmittel benötigt? Die Sinnfrage

„So wenig wie möglich, so viel wie nötig!“, beschreibt PD Dr. Thilo Hotfiel, GOTS-Vorstandsmitglied und Orthopäde am Zentrum für Muskuloskelettale Chirurgie des Klinikums Osnabrück, den Grundsatz zum Einsatz orthopädischer Hilfsmittel im Sport. Grundsätzlich sollte der Einsatz von Bandagen, Orthesen oder Einlagen stets zielgerichtet erfolgen und objektiv begründet sein, was idealerweise Fachkenntnisse hinsichtlich anatomisch-medizinischer, bewegungsphysiologischer und biomechanischer Zusammenhänge voraussetzt. Das gilt unabhängig von der individuellen Motivation, ein orthopädisches Hilfsmittel einzusetzen. Das heißt, es spielt keine Rolle, ob man an die Nutzung die Hoffnung knüpft, „seine“ Sportart weiter auf dem gewohnten Leistungsniveau ausüben zu können, ob man akute Beschwerden lindern oder Verletzungsprophylaxe betreiben möchte. Einfach nur so nach dem „Kann-ja-nicht-schaden-Prinzip“ herumzuexperimentieren, ergibt wenig Sinn.

Was sagt die Wissenschaft?

Tatsächlich sind wissenschaftliche Belege (die sogenannte „Evidenz“), die allgemeingültig eine therapeutische/präventive Wirksamkeit stützen, weit weniger deutlich als der omnipräsente Einsatz vermuten lässt. Das bedeutet, dass Individualität großgeschrieben werden sollte und man sich als Einzelperson am besten an den sportaffinen Arzt des Vertrauens wendet, der die eigenen sportarttypischen Belastungen, überstandene Verletzung kennt und sich mit Konstruktionsprinzipien und Wirkungsweisen verschiedener Hilfsmittel auskennt, vor allem aber (Kontra)Indiktionen beurteilen kann. Eine schlechtsitzende Bandage mit ungeeigneten Stabilisierungselementen oder eine nicht individuell angepasste Schuheinlage kann ebenso Schaden anrichten wie ein laienhaft abgelegter Tapeverband, der den Blutfluss abschnürt. Insbesondere wenn Vorschäden oder akute Verletzungen vorliegen, ist die enge Zusammenarbeit von medizinischer Betreuung (Arzt, Physiotherapeut) und Orthopädietechnik und gegebenenfalls dem Trainer wünschenswert.

Breite Produktpalette

Eine einfache Bandage aus mehr oder weniger elastischem Mischgewebe hat vermutlich jeder schon einmal über den zwickenden Oberschekel oder als komprimierende Sofortmaßnahme im Verletzungsfall über den Oberschenkel gezogen. Das ist auch gut und richtig. Sobald aber weitere Funktionselemente wie zum Beispiel Silikon-Pelotten zur gezielten Druckumverteilung eingearbeitet sind, wird es deutlich individueller hinsichtlich des genauen Beschwerdebildes. Einfache Bandagen ermöglichen modellabhängig in der Regel eine annähernd „normale“ Aktionsfreiheit, da sie keine Bewegungsrichtungen einschränken und lediglich stabilisierende und komprimierende Funktionen erfüllen. Dabei gilt es aber zu beachten, dass die mechanische Kompression die Sensomotorik (Nerv-Muskel-Koordination), die Thermoregulation, den Fluss des Blutes in den oberflächlichen Venen sowie der Lymphe in ihren Gefäßen beeinflusst. So dürfen etwa auftretende Taubheitsgefühle nicht ignoriert werden.

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Die kompakteren »Orthesen« dienen der stärkeren Stabilisierung, gegebenenfalls sogar der funktionellen Überbrückung eines labilen Gelenks. Durch zusätzliche Bauelemente haben sie eine bewegungsführende und -korrigierende Funktion. Ohne medizinische Indikation und ärztliche Verordnung sollten sie nicht „auf gut Glück“ erworben und angewendet werden. Richtiges Anlegen und perfekter Sitz sind ausschlaggebend für die Wirksamkeit und um Schäden zu vermeiden, die über unangenehme Druck-/Scheuerstellen hinausgehen.

Reine Protektoren wie man sie aus Kontaktsport- und Hochgeschwindigkeits-Sportarten zum Schutz vor direkter Gewalteinwirkung und Sturzschäden kennt, spielen im Laufsport kaum eine Rolle. Allenfalls beim Trail in schwierigem Gelände kommt ein Nutzen in Betracht, der aber individuell erwogen werden sollte, da auch schlechtsitzende Protektoren mehr gefährden als schützen.

Über die „Krone“ der High-Tech-Orthopädietechnik, sogenannte „Präventhesen“ lassen sich wissenschaftlich fundiert kaum Aussagen treffen. Wichtig ist nur zu betonen, dass es hier nicht um allgemeine Verletzungsprävention geht. Präventhesen sind hoch individuelle Stabilisierungssysteme, die nach schwereren Gelenkverletzungen Rehabilitation und „Back-to-sports“ unterstützen. Wegen des weiten Spektrums unterschiedlicher Verletzungsmuster, Gelenkgeometrien und weiterer Gelenk- bzw. Einzelperson-spezifischer Besonderheiten gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten, die sportartübergreifend Fakten zur Wirksamkeit liefern können. Allein im Laufsport sind die Bewegungsmuster disziplinabhängig (Bahn, Wald, freies Gelände, Gebirgstrail) außerordentlich divers (Stolperfallen, Steigung, Gefälle, Sprünge, Beschleunigung, Abstoppen, Richtungswechsel).

Hilfsmittel als Wohltat für die Füße?

Moderne Laufschuhe sind bereits Meisterwerke der Sprengungs-, Stütz- und Führungstechnik. „Überpronierer“, „Übersuppinierer“ – für alle, die beim Laufen nach innen oder außen einknicken, gibt es heute im Fachhandel ausgleichende Schuhmodelle, die aber immer eine Kompromisslösung darstellen, da die nie 1 zu 1 auf die individuellen Verhältnisse abgestimmt sind. Trotz aller Technik zählen Fußbeschwerden zu den häufigsten Maläsen im Laufsport. Schuheinlagen gibt es in bunter Vielfalt von der kostengünstigen Einlegesohle in Fußgewölbedesign bis hin zum „nach Maß“, mit Formabdruck des Fußgewölbes und im Einzelfall nach ergänzender Funktionsanalyse vom Orthopädietechniker gefertigten Inlay.

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Bei ärztlich diagnostizierter Senk-Spreizfuß-Symptomatik – im Laufbereich keine Rarität – sind solche medizinischen Einlagen ein Standardtherapiebaustein, der seine Wirksamkeit x-fach unter Beweis gestellt hat. Moderne, abwaschbare Kunststoffmaterialen garantieren heute volle Sporttauglichkeit. Wer noch nie Einlagen getragen hat, benötigt meist eine gewisse Eingewöhnungszeit. Das wieder angehobene Fußgewölbe und ein verändertes Gangbild können anfangs Unbehagen bereiten und unter Umständen muss man sein angestammtes Laufschuhmodell wechseln. Meist aber entwickelt sich alles recht schnell zum Guten. Wer bei hartnäckigen Beschwerden bereit ist, tiefer in die Tasche zu greifen, hat die Möglichkeit Spezialschuhe mit individuellem Fußgewölbe fertigen zu lassen. Da aber läuferisch geforderte Treter bekanntermaßen kein besonders lange „Halbwertzeit“ haben, kann das ganz schön an die Ersparnisse gehen.

Mehr Haltung bitte

Man sieht sie in letzter Zeit häufiger, vorwiegend am Oberkörper von Hobbyläufern. Es geht um jene an einen Rucksackverband erinnernden „Haltungsbandagen“, mitunter auch als „Haltungstrainer“ im Angebot. Geworben wird mit einer die Körperhaltung optimierenden und Rückenschmerz lindernden bzw. gar nicht erst entstehen lassenden „Trainingswirkung“. Da bislang aussagekräftige Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit fehlen, sind nicht verallgemeinerbare Einzelerfahrungen und „Trial-and-Error“ das Einzige, was bei bestehendem Interesse Hinweise liefern kann. Grundsätzlich sind solche passiven „Helfer“ eher etwas für bewegungsarme Schreibtischtäter. Wer läuferisch aktiv ist und haltungsbedingt Probleme im Rückenbereich hat bzw. ihnen vorbeugen will, sei immer wieder daran erinnert, dass regelmäßiges Stabilisierungs- und Muskelkräftigungstraining (mindestens 2x/Woche) unabdingbarer Baustein körperlicher Fitness ist. So gesund das Laufen ist, die muskelbildende Komponente unter besonderer Berücksichtigung einer ausgewogenen Entwicklung gegeneinander arbeitender Muskel(gruppe)n bedarf gezielter Kräftigungsreize, die das Laufen allein nicht liefert. (Text: Dr. Stefan Graf)

Teil zwei des Beitrags findet ihr ab morgen auf aktiv-laufen.de

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