Sinfonie eines Trails
Lange To-do-Listen, hunderte E-Mails und ständige Erreichbarkeit. Purer Stress. Dagegen hilft nur eines: Raus in die Natur und ab auf die Trails.
Und ätzend. Nicht nur die Pandemie belastet die Psyche. Wie Trailrunning, also das Laufen auf unbefestigten Wegen in der Natur, mich dabei unterstützt, und zwar ständig, in dieser verrückten Welt klarzukommen, loszulassen, Fuß zu fassen. Konkrete Erklärungen und Übungen für jedermann, die hoffentlich Lust auf das Laufen draußen machen. Und auf Mozart.
Sinfonie? Die hat mit Musik zu tun und nicht mit Laufen
„Sinfonie“ stammt laut Wikipedia von sýmphōnos, griechisch für zusammenklingend, harmonisch, als Bezeichnung für Instrumentalwerke, die seit Jahrhunderten eine dominierende Stellung im Bereich der Orchestermusik hat; ein Werk bestehend aus mehreren Sätzen. Gesteuert wird das Orchester von einem Dirigenten. Mehrere Sätze brauche ich auch, wenn ich meine Füße auf dem Trail über bemoostes Wurzelwerk, totes Geäst oder beigefarbene Steinbrocken dirigiere, dem Takt der lauten Metal-Musik auf meinen Ohren Folge leistend, während sich Regen- und Schweißtropfen in meinem Gesicht vermengen, ich beim tiefen Einatmen die kühle Luft an meiner Nasenscheidewand spüre, den Blick aufrichte und meine Augen aufreiße, um über eine weitläufige Berglandschaft im Bayerischen Voralpenland zu schauen.
In der Gesamtheit der meist recht holprigen Sprungsätze und Trippelschritte entsteht im Zusammenklang mit all den Eindrücken am Ende ein Meisterwerk des Alltags: der Traillauf. Trailrunning ist das Laufen auf unbefestigten Wegen, die mich durch die vielen natürlichen Hindernisse zum Stolpern, Straucheln und aus dem Gleichgewicht bringen können. Holprig klingt das, keinesfalls harmonisch. Am Ende allerdings, sorgt ein solches Trailwerk dann aber doch auch für Harmonie: indem es mich innerlich ausgleicht. Ein Ausgleich des stressigen Alltags, der anders vielleicht nicht aushaltbar wäre. Oder zumindest weniger gut. Wie aber werden wir zu gekonnten Traildirigenten und warum ist das überhaupt nötig?
Bildschirm-Battle
Meistens mag ich meinen Job als Juristin für Arbeitsrecht sehr. Meinem Kopf tut er gut. Und meinem Körper? Um ihn auszuüben, zwingt er mich in ein Büro abseits des Vitamin-D-spendenden Sonnenlichts, auch im Homeoffice, und verlangt ein stundenlanges Sitzen am Schreibtisch. Gefesselt an einen nur Zentimeter vor meinen Augen aufblinkenden Bildschirm kapituliert mein Körper zusehends: Morgens oder bei Terminen ist „Sitzen“, nämlich in durchgestreckter Haltung und mit gehobenem Kopf, noch das zutreffende Verb der Beschreibung. Im Laufe des Arbeitstages schließe ich irgendwann die Bürotür, um den Prozess der Kapitulation meinen Kollegen nicht sichtbar zu machen: Ich sinke immer weiter in eine hängende Haltung, niedergedrückt von der Last des Zugeballertwerdens von E-Mails, Anrufen, Zurufen; meinen Augen folgend näher Richtung Screen, mit meinem Rücken Richtung Bandscheibenvorfall.
Von Sitzen kann keine Rede mehr sein, sondern von Hängen, Versacken, manchmal stützend, immer schädlich jedenfalls. Die Konzentration aufs Schaffen, aufs Funktionieren und aufs Standhalten lässt mich die Körperrufe nach artgerechter Haltung ignorieren. Artgerecht heißt dabei: in bewusster, körpergerechter Bewegung. Und zwar draußen. Psychologin und Extremsportlerin Eva Maria Sperger bringt es auf den Punkt: „Aktuell sind wir drinnen gefangen. Das ständige Ins- Handy-Gucken und das Absorbiertsein von Bildschirmen, das lässt den eigenen Körper vergessen. Teilweise nimmt man gar nicht mehr wahr, wie man eigentlich sitzt und wie man sich fühlt. Das Laufen draußen in der Natur ist das, was uns guttut.“ Wieso das?
Seelen-Sinfonie
Wenn ich nach einem langen Bürotag vorm Bildschirm die enge, steif gebügelte Kanzleikleidung gegen verwaschene, teils zerrissene Trailklamotten tausche, passiert etwas: Als würde der Kleidungswechsel einen Identitätstausch einleiten, legt sich körperlich wie mental ein Schalter um. In Erwartung der Laufbewegung streckt sich die Wirbelsäule von der Fragezeichen- in eine Ausrufezeichenhaltung. Mein Körper hat Bock. Mental switche ich aus dem Anspannungs- in den Entspannungsmodus. Ich bin bereit fürs Draußensein. Eva Maria Sperger läuft ab und zu drinnen auf dem Laufband oder sitzt auf der Fahrradrolle und weiß daher: „Draußen zu sein, das hat einen ganz anderen Erholungseffekt. Mir geht immer richtig das Herz auf, wenn ich von der ebenen, bequemen Straße weggehe, um im Wald zu laufen. Das ist Auftanken für die Seele.“ Geist auf Wanderschaft „Das Auftanken der Seele klappt aber nur dann, wenn wir bewusst loslassen, von den tausend To-dos, den tausenden Angeboten und Millionen von Einflüssen.
Und das Handy liegen lassen“, so Eva weiter. „Wenn wir dem Geist freien Lauf ließen, würde er sich ganz automatisch auf Problemsuche begeben, daran festhalten und festhängen. Damit steigt die Anspannung. Problemorientiertes Denken D ist Stress.“ Also sollten wir dem Geist eben nicht freien Lauf lassen, sondern ihn steuern, während und indem wir uns freien Lauf lassen: Und zwar in der Natur. Eine Sinfonie klingt ja auch erst schön, wenn das Orchester von einem Dirigenten gesteuert wird. Zum Glück sind wir selbst die Dirigenten auf dem Trail und können unseren wandernden Geist ausdribbeln. Die
Wanderschaft beenden, den Lauf beginnen: In drei Schritten
Den Weitblick über ein grünes Feld schweifen lassen, in eine nebelige Waldlichtung oder über die Stadt blicken und mal den Schnee, den Regen, die Sonne auf der Haut erleben. Zum Sonnenauf- oder Untergang laufen gehen. Dem Laub, durch das der Wind fährt, lauschen. Die Sonnenstrahlen beobachten, die durch die Bäume scheinen. Die Sprünge und Schritte auf dem Trail spüren und die kalte Luft an den Nasenflügeln – also bewusstes Wahrnehmen, das sei der Schlüssel dazu und der erste Schritt, einen Traillauf zu einer Sinfonie werden zu lassen, in der verschiedenartige Einzelheiten eindrucksvoll zusammenwirken, Stress vertreiben, Selbstzufriedenheit bringen. Das ist leichter gesagt als getan. Der Weg könnte über Achtsamkeitsübungen gegangen werden. Eva praktiziert das selbst und nennt eine Übung „5-4-3-2-1“.
Die ersten zehn Minuten jedes Laufs fragt sie sich: Welche fünf Dinge höre ich gerade? Welche fünf Dinge rieche ich geraden, spüre ich im Körper, erreichen meine Augen? Das bewusst gesteuerte Zurück in-den-Moment-Kommen, zur Atmung, zur Bewegung, das sei in jeglicher Hinsicht total heilsam, weil wir so aus dem Grübeln, dem Stress, der Anspannung rauskommen. Das Traillaufen eignet sich hierfür sehr gut, weil wir hier so viele nährende Eindrücke bekommen. Perfekt für eine Auszeit zur Beschäftigung mit sich selbst und zum Zurückkommen in den Körper. All das haben wir schon millionenmal gehört. Achtsamkeitsübungen sind längst im Trend. „Der Clou an der Sache ist aber“, so Eva lachend, „es zu tun. Klar haben wir das alle zwar schon zigmal gehört, aber wie oft machen wir das tatsächlich? Selten, oder?!“
Wenn wir diese Übung einfach immer die ersten zehn Minuten am Anfang und am Ende jedes Laufs machen, wird sich bald eine Routine entwickeln, die uns in der Umsetzung leicht fallen wird. Der nächste Schritt wäre, das bewusst Wahrgenommene zu genießen, uns zu fragen: Was kann ich vom Wahrgenommenen genießen, was ist gerade schön, was gefällt mir hier? Gerade beim Trailrunning können wir durch das Rumhüpfen leicht eine kindliche Freude spüren, oder? Nach Wahrnehmen und Genießen folgt der letzte Schritt, der banal klingt, aber auch selten umgesetzt wird: dankbar sein. „Vielleicht sollten wir uns die Vergänglichkeit bewusst machen – wir werden die Beweglichkeit verlieren im Alter. Wir können uns sehr freuen, dass wir jetzt einen Körper besitzen, der funktioniert. Wie wäre das, das alles nicht mehr zu haben? Dieses Wissen ist eine Möglichkeit, mehr Wertschätzung aufzubringen für die Bewegung, sogar für die Anstrengung und die besonderen Momente draußen.“ Das erzeugt Dankbarkeit.
Komponisten und Dirigenten der Sinfonie auf dem Trail
Der erste Satz der Sinfonie ist schnell, der dritte ist tänzerisch, entweder ein Menuett oder ein Scherzo, und der vierte Satz ist das dynamische Finale – das klingt exakt nach meinem letzten Trailtraining. Wie so oft ist es mit Straucheln verbunden, besonders beim Schnelllaufen, mit Stolpern, auch mal mit einem blutigen Knie und auch mal mit einer Null-Bock-Haltung, wenn es draußen nass und kalt ist. Aber am Ende ist das Gesamtgefühl, körperlich wie psychisch, immer ein besseres als vor dem Lauf; außer vielleicht im Hinblick auf das aufgeschlagene Knie, das noch immer schmerzt.
Der Feldweg nebenan
Lasst uns dem kleinen Mozart in uns freien Lauf lassen, und zwar auf den Trails da draußen. Denn letztendlich haben wir es selbst in der Hand, ob wir uns auf einen geilen Traillauf einlassen oder ob wir dem Bildschirm-Battle unterliegen. Komponisten und Dirigenten eines cooleren Alltags können wir alle leicht werden. Muss ja nicht gleich ein Mozart mit seinen 41 Meistersinfonien sein, es reicht ja schon der Drei- Kilometer-Trailrun über den Feldweg nebenan; der kleinere Beethoven in uns mit seinen neun Werken, der täte es auch. Lasst mich gerne hören, wie Euch Eure Sinfonie in Komposition und Dirigentschaft gelungen ist.
Empfehlungen der Expertin: Psychologin Eva Maria Sperger
- Wahrnehmen via Übung „5-4-3-2-1“.
- Genuss des Wahrgenommenen.
- Dankbar sein für den eigenen Körper, geile Trailmomente und die schöne Natur. Umsetzung: Zehn Minuten am Anfang/Ende jedes Traillaufs praktizieren, Routine schaffen.
Und: Handy weg!
Text: Juliane Ilgert
Alter: 30
Wohnort: München
Beruf: Juristin & Trailläuferin