Joyce Hübner: Die absolute Grenzerfahrung (II)
Insgesamt spulte Joyce Hübner bei ihrer Deutschlandumrundung in 20 Wochen 5.127 Kilometer ab und hatte es mit 69.656 Höhenmetern zu tun. Dabei lernte sie traumhafte Laufregionen kennen und verhalf zahlreichen Leuten zum Marathondebüt.
Ungefähr 100 Leuten hat Joyce Hübner unterwegs den ersten Marathon beschert. „Man kann schon sagen, dass mich das stolz gemacht hat“, erzählt die Berlinerin, „ich glaube, es gibt ganz viele Läufer und Läuferinnen, die das total gerne mal machen würden und wahrscheinlich auch körperlich schaffen würden. Aber die trauen sich nicht, weil sie das Bild im Kopf haben, dass man den Marathon bei einer offiziellen Veranstaltung in sechs oder fünf Stunden schaffen muss. Oder dass ein Marathon nur ein wahrer Marathon ist, wenn du ihn in vier Stunden läufst.“
Diesen Druck konnte Joyce den Leuten nehmen. „Bei mir war alles entspannt, wir haben immer mal wieder zwischendurch Pausen gemacht. Ich glaube, 50 Prozent der Erstis, wie ich sie genannt habe, hatten gar nicht vor, einen Marathon zu laufen. Die haben in der Gruppe dann gar nicht gemerkt, wie die Kilometer verflogen sind.“ Und wenn sich bei Kilometer 30 dann doch Überlegungen ans Aufhören anbahnten, kamen sofort aufmunternde Worte. „Da hat man sich gegenseitig motiviert. Das war ein toller Anreiz.“ Die anderen 50 Prozent der Erstis sind bewusst für ihre Marathonpremiere zu Joyce dazugestoßen, weil sie sich vom Format, der Atmosphäre ohne Zeitdruck, angesprochen fühlten.
Das andere Frankfurt
Frankfurt an der Oder, das war die Stadt, in der Joyce Hübner am 1. Mai 2023 ihr großes Abenteuer startete. Am 20. September kam sie dort wieder an – nach 120 Marathons entlang der deutschen Grenze. Das heimische Sofa nicht mehr verlassen oder möglichst schnell an einen Strand düsen und dort mit einem Kaltgetränk in der Hand entspannen: Es hätte naheliegende Aktivitäten gegeben, die großartige Deutschlandumrundung zu feiern. Doch Joyce entschied sich anders, sie lief erstmal weiter, absolvierte unter anderem den Berlin-Marathon und einem Halbmarathon in Dortmund. Und dann ging es für sie wieder nach Frankfurt, dieses Mal jedoch in die Stadt am Main. Am 29. Oktober – und damit nur gut einen Monat nach ihrem erfolgreichen Mammutprojekt – stand sie an der Startlinie des prestigeträchtigen City-Marathons mit einem bestimmten Ziel im Hinterkopf, eine neue Bestzeit aufstellen.
Normalerweise legt Joyce das Telefon während des Laufens gar nicht aus der Hand. Dann fängt sie die Atmosphäre ein oder filmt bei einem Stadtmarathon den Aufbau des Getränkestands und andere Details, die ihre Followerinnen und Follower in den sozialen Medien interessieren könnten. Nun wollte sie gemeinsam mit zwei befreundeten Pace-Makern einfach einmal so schnell laufen, wie es geht. „Das war für mich eine Herausforderung, mich nur auf mich selbst zu fokussieren“, berichtet Joyce.
3:26:14 Stunden nach Startschuss war klar: Die 35-Jährige hatte mit ihrem konzentrierten Lauf ihre Bestzeit um fast 20 Minuten nach unten gedrückt. Diese wird nun ganz lange Bestand haben, das ist nach Joyces Fazit klar. „Es war alles schön und gut, aber es war natürlich auch sehr anstrengend. Und eigentlich liebe ich ja das Laufen, weil es so einfach von der Hand geht. Und das macht mir mehr Spaß, einfach locker flockig, easy und entspannt zu laufen und nebenbei zu quatschen und kurz anzuhalten. Ich sehe den Sinn nicht so dahinter, jedes Mal Vollgas zu geben.“
Das Erfolgsrezept von Hübner
Genau diese Einstellung war auch ihr Erfolgsrezept bei der Deutschlandumrundung. „Mit dem Wissen, dass du jeden Tag vom Neuen loslaufen musst, kannst du nicht jeden Tag alles geben. Dir bleibt schließlich auch superwenig Zeit, um zu regenerieren. Deswegen musst du, das klingt jetzt vielleicht blöd, schon während des Laufs gucken, dass du regenerierst. Das funktioniert nur, wenn du relativ langsam unterwegs bist“, sagt Joyce. Sie schwört daher auf das Laufen nach Gefühl. „Jede Läuferin und jeder Läufer hatte bestimmt schon mal irgendwelche Laufverletzungen. Und das kam bei mir immer zustande, wenn ich einem Ziel hinterhergejagt bin. Das war dann Übertraining und hat mich nach hinten katapultiert. Ich musste dann zwei oder drei Monate Laufpause einlegen. Nach diesen ganzen Laufverletzungen habe ich dann beschlossen, ich mache jetzt alles nach Gefühl.“ Bei der Deutschlandumrundung bestätigte sich, dass ihre Laufphilosophie für sie so genau richtig funktioniert.
Einfach mal etwas anderes sehen
Als wir mit Joyce Hübner für diesen Artikel sprechen, kommt sie gerade von einem solchen Lauf nach Gefühl wieder. 6,5 Kilometer ist sie durch Berlins Straßen gelaufen. „Es war zwar schön, aber es gibt Tage, da fühlt es sich besser ein. Wenn ich merke, dass es heute nicht so eine gute Idee ist weiterzulaufen, dann höre ich einfach auf“, sagt Joyce und ergänzt mit einem Lachen: „Ich muss ja jetzt nicht mehr jeden Tag 42 Kilometer laufen.“ Die Kilometerzahl entscheidet sie nun wieder ganz nach Lust und Laune, dafür gibt es allerdings bei der Laufstrecke nicht mehr so viel Abwechslung wie noch bei der Deutschlandumrundung, wo sie mit jedem Schritt etwas Neues entdeckte.
„Ich habe jetzt wirklich schon jede Straße in Berlin gesehen, zu jeder Jahreszeit, bei Regen, bei Sonne, bei Wind. Man kann mich irgendwo aussetzen und ich weiß, wie ich zurückkomme“, sagt Joyce. Das bedeute für sie momentan, dass sie sich neue Anreize schaffen müsse. Manchmal fragt sie zum Beispiel ihre Community in den sozialen Medien, was sie ablaufen könne. Das führte dazu, dass sie schon eine Sightseeing-Tour durch Berlin machte, laufend Feuerwehren abklapperte oder von einem zum nächsten Donut-Laden lief. „So läufst du durch Gegenden, auf die du selbst so nicht kommen würdest.“ Das Motto ist „Spaß haben und einfach mal etwas anderes sehen“.
Hübner: „Vor der Haustüre liegen viele tolle Sachen“
Und wenn sich Berlin beim Laufen dann mal von seiner grausten Seite zeigt, hilft auch der Gedanke an zukünftige Laufreisen – am liebsten in die Regionen, die sie schon während ihrer Deutschlandumrundunng gestreift hat. „Die Sächsische Schweiz zum Beispiel war wunderschön, da kann man sicher wochenlang laufen und hat wahrscheinlich noch nicht alles gesehen. Ich will auch unbedingt noch einmal in den Bayrischen Wald, den hatte ich zuvor gar nicht auf dem Plan. Gefühlt hat dort auch jeder Berg eine eigene Laufveranstaltung. Da muss ich mich mal informieren und unbedingt mitmachen. Man muss gar nicht so weit verreisen, vor der eigenen Haustür liegen so viele tolle Sachen. Wenn ich könnte, würde ich gerne jede Woche woanders laufen.“
Bis es soweit ist, kann Joyce zumindest in ihrer Küche noch etwas an die verschiedenen Ecken Deutschlands denken. Dort steht im Gewürzregal nun „Dem Rubens sin Duffelgewürz“. Unterwegs bekam die Läuferin nämlich immer wieder Geschenke – in NRW zum Beispiel ein regionales Gewürz. Anders als bei den Imbissbuden und Hotelzimmern hat Joyce bei den Geschenken keine Hitliste im Kopf. Von Gewürzen, über gehäkelte Stoffhasen und Freundschaftsarmbänder bis hin zu Polizeiabzeichen, für sie war jedes Geschenk ein absolutes Highlight und eine wunderbare Erinnerung an ihre Grenzerfahrung. (Text: Kerstin Börß)